Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall

Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall

Titel: Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Regine Kölpin
Vom Netzwerk:
Krechtings, Familie schaden würde. Er teilte Hebrichs Meinung nicht, dass der Mörder einer der Seemänner gewesen sein könnte, der nun längst wieder fort war. Eine innere Stimme sagte ihm, dass der Mord an Friso van Heek tiefere Beweggründe hatte als Habgier oder einen banalen Streit mit tödlichem Ausgang. Nach allem, was er gehört hatte, war Friso van Heek eine schillernde Figur gewesen. Ein solcher Mensch ließ sich sicher nicht zu einem Streit mit einem einfachen Seemann hinreißen. Auf der anderen Seite sollte er ja ziemlich betrunken gewesen sein, da waren auch gefestigte Personen nicht mehr zurechnungsfähig. Es war alles so verworren, er hätte erst diese Dinge aufklären und anschließend reisen sollen.
    Der einzige Vorteil dieser Reise zum jetzigen Zeitpunkt war, dass ihm mit etwas Abstand bestimmt eine andere Möglichkeit einfallen würde, wie er das Armenwesen ohne den Mönch umgesetzt bekam. Eine Zusammenarbeit mit einem katholischen Geistlichen war etwas, das ihm während seiner Zeit in Münster noch unmöglich erschienen wäre, selbst wenn er den bischöflichen Freibrief tatsächlich für seine Flucht und die seiner Familie genutzt hatte. Das aber war Mittel zum Zweck, war die einzige Möglichkeit zu überleben gewesen, also eine völlig andere Voraussetzung als das, was Hebrich von Knyphausen nun von ihm erwartete. Er empfand es als Gotteslästerung, denn weiter im Denken voneinander entfernt als ein Täufer aus Münster und ein katholischer Mönch konnte man kaum sein. Wie tief war er mit seinen Idealen gesunken, wie weit von seinen Visionen entfernt. Das Täuferreich, das Neue Jerusalem, war weiter weg denn je. Er würde in seinem irdischen Leben keine Möglichkeit mehr haben, diesen Traum in die Wirklichkeit umzusetzen. Und das schmerzte ihn mehr, als er zugeben wollte. Nach außen hin bewahrte er stets die Haltung, die ihm von der Bevölkerung den Respekt zuteilwerden ließ, der ihm als Jurist und rechte Hand der Herrscherin zustand. Doch wenn Hebrich ihn mal wieder geknechtet und mit ihren neuerlichen Ideen gedemütigt hatte, fühlte er sich so klein und unbedeutend wie die Ameise am Wegesrand.
    In den Nächten, in denen er sich von einer Seite auf die andere wälzte, haderte er mit sich und seinem Leben, haderte mit Gott, dass der den Prediger Rothmann zu sich gerufen hatte, bevor er in der Herrlichkeit wirken konnte. Wollte Gott den wahren Glauben nicht? War es ihm gefällig, dass die anderen Strömungen an Einfluss gewannen und die Täufer mehr und mehr schwächten? Dass selbst die Mennoniten zukünftig Zins zahlen sollten, wenn sie ein Bethaus bauten? Was war es für eine Welt, in die er hineingeboren worden war? Wie sollte sie die Wahrheit je erfahren, wenn sich alle aufgestoßenen Tore nach und nach verschlossen?
    Linker Hand sah Krechting die letzte Landmarke, den Kirchturm von Minsen, als sie die Jade verließen. Er wusste nicht, was ihn in Emden erwartete, er wusste auch nicht, wie er in der Herrlichkeit und der Neustadt weiter vorgehen sollte. Krechting wusste nur eines: Er war unglaublich müde.

Amsterdam 1530
    Das Kind zeigt sich nur ungern auf der Straße, hält immer Ausschau nach den Jungs. Es hat große Furcht, ihnen wiederzubegegnen. Einmal sieht es den großen von ihnen. Nicht weit von ihrer eigenen Kammer entfernt. Er kniet vor einem Priester, in einer Gasse dicht an die Hauswand gedrängt. Der Gottesmann hat die Augen geschlossen, den Mund gespitzt und den Blick zum Himmel geneigt. Die Hand liegt am Kopf des Jungen und schiebt ihn auf und nieder. Die Bewegung wird immer schneller, bis er den Jungen in den Dreck stößt, seinen Rock um den Bauch schlägt und wie ein Schatten zwischen den Häuserzeilen verschwindet. Der große Junge schluchzt laut und kehlig.
    Das Kind verschwindet, besser, es wird nicht gesehen. »Gott bestraft sofort«, hat Mutter gesagt. Ändern tut es für das Kind nichts.
    Drei Tage musste es im Bett liegen, bevor die Schmerzen erträglich wurden. Drei Tage, in denen die Angst kaum auszuhalten war. Noch immer tanzen die Bilder vor den Augen, noch immer riecht es den Schlamm, der sich tief in die Nase gefressen hat und nur Stück für Stück bereit ist, sich von dem kleinen Körper zu lösen.
    Es wagt sich nicht gern hinaus, aber wenn die Männer kommen, will es die Mutter so. »Du musst nur achtgeben, dich in die Häuserecken zu drücken«, sagt sie. »Lauf nicht zum Markt, nicht zu weit fort. Dann ist es ungefährlich.« Ihre Stimme ist dünn, und

Weitere Kostenlose Bücher