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Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall

Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall

Titel: Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Regine Kölpin
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wieder spürt das Kind, dass die Mutter nicht das sagt, was sie wirklich denkt. Sie hat genauso viel Angst wie das Kind, und doch kann sie nicht erlauben, dass es da bleibt, wenn sie die Männer streichelt. Die Männer tun der Mutter weh, weil sie danach weint, und das soll das Kind nicht merken.
    Es versucht, den Kristall mitzunehmen und wegzuwerfen. Er schützt sie nicht mehr. Es wird Zeit, ihn aus dem Haus zu verbannen, bevor noch Schlimmeres geschieht als das, was die Jungs mit dem Kind getan haben. Wenn der Meerkristall nicht schützt, dann schadet er. Aber es findet ihn nicht. Mutter hat ihn gut versteckt. Sie schlägt das Kind ins Gesicht, als sie bemerkt, dass es den Kristall sucht. »Er ist mir wichtig, und kein Mensch außer mir wird die Träne berühren. Und tut es doch jemand, wird denjenigen das Unheil verfolgen. Der Meerkristall ist nur für mich gemacht. Für mich ganz allein.« Sie spricht nicht mehr von Gott. Nur noch vom Kristall.
    Das Kind bekommt Angst, als Mutter all das sagt. Sie ist ihm unheimlich, weil ihre Augen rot unterlaufen sind, weil ihre Hände zittern. Und immer häufiger riecht sie süßlich aus dem Mund. Immer dann, wenn auf dem Tisch die leeren Krüge stehen, die einen ähnlichen Geruch verströmen.
    Ein Stein fliegt an die Scheibe. Die Mutter packt das Kind am Kragen und zerrt es vor die Tür. Kaum ist es an der unteren Treppe, kommt der Mann herein. Er lacht rau, tritt nach ihm wie nach einem räudigen Hund. Dabei blitzen seine goldenen Augen, die so aussehen, wie sich das Kind die des Teufels vorstellt. Diese Augen, dieses Lachen wird es sich merken. Sein Leben lang.
    Der Wind pfeift heute um die Ecken, es ist kalt. Die Lumpen an den Füßen des Kindes sind zerfetzt. Wenn es zu schlimm ist, wickelt es neue Tücher darum, nur sind die ebenso schnell zerschlissen.
    »Bis die Turmuhr fünf schlägt«, hat Mutter gesagt. »Dann kommst du zurück, wartest aber, bis der Mann weg ist. Die Vorhänge sind wieder offen, daran erkennst du es.«
    Das Kind ist es gewöhnt. Wenn die Uhr den letzten Schlag gemacht hat, stellt es sich an die Straßenseite und wartet. Manchmal kann es gleich hinauf, manchmal sind die Vorhänge noch geschlossen, manchmal steht ein anderer Mann unten, der den, der in der Wohnung ist, ablöst. Dann kann das Kind noch dreimal um den Block laufen. Meist ist die Zeit dann um.
    Es hat sich noch nicht wieder auf den Markt gewagt, denn die Jungen werden dort warten. Das haben sie gesagt. Weil sie lustig finden, was sie getan haben. Dem Kind zieht sich noch immer alles zusammen, wenn es nur daran denkt. Es konnte ganz lange nicht auf den Topf gehen, weil alles gebrannt und immer wieder geblutet hat. Mutter hatte ihm eine Salbe gegeben, die aber nicht wirkte. Vielleicht, weil die Schmerzen im Bauch, im Herz viel zu groß sind. Sie sind auch nach all der Zeit nicht weniger geworden. Das Kind taugt nichts mehr, ist nichts mehr wert. Wird nie etwas wert sein.
    Die Turmuhr schlägt ein Mal. Dann noch ein Mal. Bis die fünf Schläge verklungen sind. Das Kind hastet zur Straßenecke und wartet. Die Zehen sind fast erfroren, es zittert am ganzen Leib. Hofft, die kalten Füße zumindest in warmes Wasser tauchen zu dürfen. Den Eimer stellt Mutter immer hin, wenn es lange draußen warten musste.
    Die Turmuhr schlägt die Viertelstunde, doch noch immer kommt kein Mann aus dem Haus und die Vorhänge bleiben verschlossen. Das Kind wagt nicht hineinzugehen, will die Mutter nicht verärgern. Nach einer Weile weiß es nicht mehr ein noch aus, weint vor Schmerzen und geht doch hinein. Es ist viel zu still. »Mutter?«, ruft das Kind. »Mutter?«
    Die Laken vor der Bettstatt sind zugezogen. Aber sie sind nicht mehr weiß. Ein breiter roter Streifen frisst sich am unteren Rand entlang und verliert sich in einer blutigen Spur bis auf den Fußboden.

8. Kapitel
    Hiske saß mit Jan, dem Wortsammler und Garbrand in ihrer Küche. Sie hatten eine ganze Zeit geschwiegen. Keiner von ihnen wusste mit der Situation umzugehen. Schließlich durchbrach Hiske die Stille, die nur von den hereindringenden Geräuschen des Tages unterbrochen wurde und denen alle dankbar lauschten, weil sie ein Stück Normalität vermittelten. »Wer könnte gesehen haben, ob der Kaufmann an dem Abend, als er starb, das Medaillon noch am Hals hatte?«
    »Der Wirt der
Krocht
«, sagte Jan, »aber den habe ich schon gefragt. Er kann sich nicht erinnern.«
    »Wahrscheinlich war er selbst zu betrunken. Außerdem achten Männer wie

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