HISTORICAL Band 0264
Naivität. Konnte sie denn nicht sehen, dass Sally Bowes vollkommen imstande war, allein zurechtzukommen? Nun, vielleicht konnte sie das ja nicht – schließlich hatte er selbst Sally auch völlig falsch eingeschätzt.
Er eilte ihnen nach, um sie einzuholen, und als sie unten in der Halle angekommen waren, drehte Sally sich zu ihm um.
Wie vom Donner gerührt blieb er stehen.
Sie sah aus wie eine Göttin.
An diesem Abend trug sie ein Abendkleid in der Farbe leuchtenden Herbstlaubs aus Taft und Seidenchiffon, dessen eckiger Ausschnitt mit Pailletten besetzt war. Charley hatte ihr ein Kollier mit tropfenförmigen Rubinen geliehen, das jetzt warm an ihrem Hals schimmerte und einen lebhaften Kontrast zu ihrer cremeweißen Haut bot.
Und sie raschelte. Bei jeder Bewegung flüsterten die Lagen von Unterröcken unter Taft und Chiffon auf sinnliche Weise miteinander und ließen Jacks Herz schneller schlagen. Er konnte sich die Rüschen und Spitzen unter dem herrlichen Kleid nur zu gut vorstellen – und darunter Sallys warme, samtige Haut. Einen Moment lang zog er ernsthaft in Erwägung, sie geradewegs wieder die Treppe hinauf und in das nächste Schlafzimmer zu tragen.
„Geht es dir gut, Jack?“, fragte Charley lachend. „Ich habe dich noch nie sprachlos erlebt!“
„Ich …“ Jack zwang sich, sich zusammenzunehmen.
„Sally hat mir erklärt, dass ihr beide dauernd streitet, daher habe ich euch bei Tisch so weit wie möglich auseinandergesetzt“, erklärte Charley und lachte ihn vergnügt an. „Tante Otto hat ausdrücklich darauf bestanden, neben dir zu sitzen, Jack. Ich glaube, sie möchte deine moralische Gefestigtheit prüfen und feststellen, ob du bereits für eine Ehe geeignet bist.“
Jack fluchte lautlos. „Und vermutlich hat Gregory Holt angeboten, Sallys Tischherr zu sein“, stieß er hervor und kämpfte gegen seinen aufsteigenden Zorn an.
Sally lächelte nur gelassen, und seine Eifersucht wurde stärker. „Wie hast du das bloß erraten?“, staunte Charley bewundernd. „Genau das hat er vorgeschlagen.“
„Lord Holt hat sich mir gegenüber stets wie ein vollkommener Gentleman verhalten“, teilte Sally ihm mit, und ihr Tonfall verriet Jack, dass sie das von ihm nicht behaupten konnte.
„Sein Ruf ist sogar noch schlimmer als meiner“, grollte er und sah, dass sie ihn gespielt ungläubig anlächelte.
„Das ist doch sicher nicht möglich?“, sagte sie zuckersüß.
Jack griff nach Sallys Hand, als sie gerade den Salon betreten wollten, und hielt sie zurück. „Vergessen Sie nicht, dass Sie heute Abend mit mir verlobt sind“, flüsterte er. „Sonst sehe ich mich vielleicht gezwungen, Sie daran zu erinnern.“
Sallys schöne braune Augen weiteten sich übertrieben. „Und wie wollen Sie das anstellen?“, fragte sie unschuldsvoll.
„Indem ich Sie vor allen Leuten küsse“, teilte er ihr mit und freute sich insgeheim, als sie errötete.
„Unterstehen Sie sich“, zischte sie.
„Dann fordern Sie mich nicht dazu heraus …“
Sie starrten sich an, wie gebannt von ihrer leidenschaftlichen Anziehung und der gleichermaßen leidenschaftlichen Feindseligkeit zwischen ihnen. Erst als Stephen Harrington erschien und sich vernehmlich räusperte, wichen sie auseinander. Mit einem amüsierten Lächeln führte ihr Gastgeber sie in den Raum, um sie mit den anderen Gästen bekannt zu machen, die diesen Abend nach Dauntsey gekommen waren.
Die Fragen seiner Großtante bezüglich seiner Moral abzuwehren, höflich zu Stephens und Charleys Tischnachbarn zu sein, obwohl ihm gar nicht danach war, und zu beobachten, wie Gregory Holt mit seiner Verlobten Süßholz raspelte – all das nahm Jack so mit, dass er gegen Ende des Essens übelster Laune war. Überhaupt schien das Essen endlos zu dauern: Consommé, Austern, Champagnersorbet, Forelle, Wild, Dessert, Käse … Jeder Gang war raffinierter als der vorherige, und es schien Stunden zu dauern, die Gerichte zu servieren, und noch länger, sie zu verzehren. Und die ganze Zeit über konnte Jack nichts anderes tun, als Gregory Holt böse Blicke zuzuwerfen, während der angeregt und mit dem größten Vergnügen mit Sally plauderte.
„Ertränke deine Sorgen in einem Glas Tokajer, mein Freund“, raunte Stephen ihm ins Ohr, als sich die Damen erhoben, um die Männer mit ihren Getränken und Zigarren allein zu lassen. „Ich muss sagen, obwohl sie in Wirklichkeit gar nicht deine Verlobte ist, hat es dich offenbar ordentlich erwischt. Du hast Miss Bowes
Weitere Kostenlose Bücher