HISTORICAL Band 0272
war gerade erst fünf Uhr. Noch eine ganze Stunde bis zum Dinner. Sechs Uhr war reichlich früh für das Abendessen. Aber hier auf dem Land, wo man mit der Morgendämmerung aufstehen musste, war es sinnlos, sich an Londoner Gepflogenheiten zu halten.
Dennoch trug sie schon ein Abendkleid aus blauem Seidentaft mit eingewebtem Blumenmuster. Kait hatte ihr beim Schnüren des Korsetts geholfen, bevor sie sich in der Küche dem Dekorieren der Speisen widmete. Gemächlich streifte Susanna nun die farblich passenden wadenhohen Seidenstiefeletten über und erhob sich.
Sie schritt zum Fenster und blickte versonnen in die grüne Heidelandschaft hinaus. Es war sehr unangenehm, dass James ihre Gäste partout loswerden wollte. Susanna hoffte, James würde Mr. Fowler und Miranda erst beim morgigen Frühstück erklären, dass sie abreisen mussten. Dann könnten die beiden unmittelbar nach dem Packen aufbrechen. Sie machte einen Schritt zurück. Auf jeden Fall würde die Atmosphäre am Frühstückstisch nicht gerade angenehm sein.
Und was, wenn sie ihre Gäste damit in Gefahr brachten, dass sie ihnen nicht weiter Schutz gewährten? Obwohl Susanna Miranda und Mr. Fowler nur zu gern ziehen ließ, peinigten sie Gewissensbisse. Was, wenn James sich irrt? Vielleicht hat Mr. Durston ja nichts von Mr. Colins Unterschlagungen geahnt? Vielleicht war er vollkommen unschuldig? So wenig sie Miranda mochte, Susanna wollte auch nicht dafür verantwortlich sein, wenn ihr auf dem Weg nach London etwas zustieß. Während sie müßig durch ihr Zimmer schlenderte, fasste sie den Entschluss, sich noch ein Buch aus der Bibliothek zu holen. Leise huschte sie nach unten.
Gedämpftes Stimmengewirr drang durch die Türen, als sie vor der Bibliothek stand. Unwillkürlich hielt Susanna inne. Sind das etwa Fowler und Miranda? Es widerstrebte ihr, mit den beiden allein zu sein. Sie würde sie heute Abend noch lang genug ertragen müssen. Unschlüssig blieb sie stehen und lauschte.
Glas klirrte, dann erklärte eine Stimme, die eindeutig Miranda gehörte: „Noch so ein Tag wie heute und ich werde wahnsinnig!“ Sie klingt wütend, stellte Susanna überrascht fest. „Wenn das in diesem Tempo weitergeht, werden wir noch Ewigkeiten in diesen verdammten Highlands bleiben müssen!“
„Es ist alles nicht so einfach, wie du behauptet hast. Außerdem steht das Risiko in keinem Verhältnis zur Belohnung“, beschwerte sich eine quäkende Männerstimme. Fowler.
„Du hast es versaut, Brodie. Schließlich hattest du deine Chance. Bei mehr als einer Gelegenheit, darf ich hinzufügen!“
„Aber begreife doch, Miranda – es geht um Geld! Wir könnten beide Landgüter verkaufen. Oder Hypotheken darauf aufnehmen. Und damit wäre unser Problem im Nu gelöst.“
„Pst!“, warnte Miranda ihn. „Sprich leiser.“ Sie schwieg.
„Nun gut. Sehen wir zu, dass wir aus den beiden herausholen, was herauszuholen ist“, meinte sie schließlich zögernd.
„Ich weiß auch schon, wie wir es anstellen. Meinst du, Garrow spielt gut Karten?“
Susanna hörte, wie Miranda schnaubte. „Gut? Wie gut kann jemand sein, der am Rande der zivilisierten Welt lebt!“ Sie lachte verächtlich. „Aber ich sehe schon, woher der Wind weht!“
„Der Wind, der uns die Rettung bringt“, erklärte Mr. Fowler feierlich. „Wenn auch dieser Plan fehlschlägt, dann haben wir wenigstens alles versucht. Ich werde oben noch ein paar Fingerübungen machen, meine Liebe. Du wirst den heutigen Abend sehr amüsant finden.“
„Sicher, mein Liebling. Das erwarte ich von dir.“
Stille herrschte. Jemand atmete heftig. „Dafür erwarte ich heute Nacht aber eine größere Belohnung als das“, deutete Fowler an.
Lautlos eilte Susanna davon und verbarg sich in der Nische neben der Treppe. Ihr schwindelte. Gute Güte – James hat recht! Die beiden führen Übles im Schilde. Und sie ha ben vor, James um Galioch zu betrügen und mich selbst um Drevers!
Was hatten Mr. Fowler und Miranda wohl vorgehabt, was ihnen bis jetzt nicht geglückt war, fragte sie sich. Ist Mr. Fow ler verstiegen genug, zu glauben, ich werde James für ihn verlassen? Glaubt Miranda, dass James angebliche Aufmerk samkeiten mich dazu bringen werden, Drevers zu verlassen und nach London abzureisen? Die Aufmerksamkeiten der beiden mussten einen bestimmten Zweck haben!
Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Wenn sie selbst nicht länger in Drevers war und James im Zorn von seiner Tätigkeit als Verwalter entband, dann …
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