HISTORICAL Band 0272
Pistolenschuss, gefolgt von einem Schrei direkt über ihr – und dann verschluckte sie das Wasser. Alle Gedanken waren ausgelöscht, bis auf einen – sie musste sich auf ihr Überleben konzentrieren.
Der Aufprall war ein Schock, und der Fluss, vom Schmelzwasser der Berge gespeist, war eiskalt. Geistesgegenwärtig schleuderte sie die Schuhe von sich, riss sich den Hut vom Kopf und zerrte an den Bändern ihrer neuen Pelerine.
Ich kann schwimmen, ich kann gut schwimmen, redete sie sich ein. Sie zwang sich regelrecht, Ruhe zu bewahren, um nicht in Todesangst wild um sich zu schlagen und zu schreien. Als Kind war sie oft im Fluss geschwommen, der sich durch den Park, der das Schloss ihrer Eltern umgab, schlängelte. Und später badete sie in dem kleinen See, der zum Garten von Maubourg gehörte. Zum Glück hatte sie ihre früheren Fähigkeiten nicht verloren, wie sie jetzt feststellte.
Von dem schweren Mantel befreit, schaffte sie es, sich über Wasser zu halten. Aber die Strömung trug sie in erschreckender Geschwindigkeit den Fluss hinunter. In der Dunkelheit ragten schwarze Schatten aus dem Wasser und trieben an ihr vorbei, ehe sie registrieren konnte, ob sie eine Gefahr darstellten oder lebensrettenden Halt bedeuteten. Eine Welle schlug ihr ins Gesicht, und sie schluckte übelriechendes Wasser. Sie musste würgen.
Es war sinnlos, gegen den Strom schwimmen zu wollen. Sie musste danach trachten, an der Wasseroberfläche zu bleiben und darauf vertrauen, dass sie sich an einem Brückenpfeiler oder an einem anderen Gegenstand festklammern konnte. Aber wo war sie überhaupt? Sie versuchte sich zu orientieren. Dies musste die Rhône sein, kurz vor dem Zusammenfluss mit der Saône. Der Gedanke an gefährliche Gegenströmungen und tödliche Strudel an der Stelle, wo die beiden Flüsse sich vereinten, jagte ihr erneut Todesängste ein. Wieder schluckte sie Wasser und glaubte schon, ertrinken zu müssen, als etwas Hartes gegen ihre Schulter schlug.
Instinktiv packte sie zu und fand Halt an einem dicken Ast, an dessen Zweigen noch vereinzelte Blätter hingen. Er war stark genug, um sie über Wasser zu halten. Sie krallte sich röchelnd und hustend daran fest. Schließlich konnte sie den Kopf so weit heben, dass es möglich war, sich umzuschauen. Sie trieb mitten im Fluss, die Schatten an den Ufern zogen in beängstigender Geschwindigkeit an ihr vorbei, während sie hilflos der Strömung ausgeliefert war. Vor ihr wich das rechte Ufer zurück und schien zu verschwinden, das musste die gefährliche Stelle sein, wo die beiden Flüsse zusammengingen.
Sie glaubte nicht mehr an eine Rettung. Ihre Gliedmaßen begannen in dem kalten Wasser taub zu werden, in ihrem Kopf drehte sich alles. Sie schnappte verzweifelt nach Luft, ihre Lungen brannten. Eva versuchte zu beten, dachte an Freddie, an Jack – und hoffte für sich selbst.
De Presteigne ging mit einem Aufschrei zu Boden, als die Kugel sich in seine Schulter bohrte. Sein eigener Schuss zielte knapp über Jacks Kopf. Ryder nahm sich nicht die Zeit, genau zu prüfen, ob der Offizier tödlich getroffen war. Stattdessen rannte er am Ufer entlang, flussabwärts, und spähte angestrengt auf das Wasser. Manchmal blitzten kleine Lichter auf dem Fluss auf, dann wieder war er nichts als pechschwarz.
Er wusste, dass er Eva verlieren würde, wenn er vor Angst kopflos wurde. Zugleich durfte er sich keine großen Hoffnungen machen. Sollte sie nicht schwimmen können oder war es ihr nicht möglich gewesen, sich an ein Stück Treibholz festzuklammern, war sie bereits ertrunken. Er verdrängte diesen entsetzlichen Gedanken und suchte weiter. Da!
Ein Gewirr von Blättern und Zweigen, ein dunkler Kopf, ein helles Stück Stoff, ein Arm, der aus dem Wasser ragte. Sie trieb in einiger Entfernung vor ihm im reißenden Fluss. Er würde es niemals schaffen, vor ihr die Stelle zu erreichen, wo die beiden Flüsse sich vereinten.
Spaziergänger auf dem Uferweg fuhren aufgeschreckt auseinander, als Jack angestürmt kam. Und dann tauchte ein Reiter aus einer Seitenstraße auf, gemächlich im Sattel sitzend, vermutlich auf dem Heimweg zu seinem Abendessen. Jack zog das Messer aus dem Stiefelschaft und zerrte den Reiter vom Pferd. Die scharfe Klinge zwischen seinen Zähnen verfehlte den bedrohlichen Eindruck auf den harmlosen Bürger nicht: Er warf erschrocken die Arme hoch und ergab sich widerstandslos.
Das Pferd scheute und bäumte sich unter dem ungewohnten Gewicht des fremden Reiters auf. Doch dann
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