HISTORICAL BAND 295
befragte, konnte sie mit reinem Gewissen erklären, dass sie von dieser Sache nichts wusste. Allerdings gelang es ihr nicht ganz, ihre Schadenfreude zu verbergen.
„Allein wäre er nicht weit gekommen, also muss ihm jemand geholfen haben.“
„Das ist möglich“, antwortete sie.
„Wer hat ihm geholfen?“
„Das weiß ich nicht.“
„Aber wenn du es wüsstest, würdest du es mir nicht sagen, richtig?“
„Richtig.“
Die Antwort war zwar ehrlich, aber auch im gleichen Maße aufsässig. Nur mit Mühe konnte er sich davon abhalten, sie zu packen und zu schütteln, um sie zum Reden zu bringen. Auch wenn diese Hexe sich so ruhig und gelassen gab, sah er ihr an, wie die Situation sie mit Genugtuung erfüllte. Er glaubte nicht, dass sie persönlich Aylwin zur Flucht verholfen hatte, immerhin wurde sie im Frauengemach bewacht. Dennoch war sie sichtlich erleichtert darüber, dass der Mann unauffindbar war. Möglicherweise war ihr dieser Angelsachse ja doch nicht so gleichgültig, wie er zunächst geglaubt hatte. Dieser Gedanke half nicht gerade, sein Temperament zu bändigen, deshalb schickte er sie rasch wieder fort, bevor er sich zu etwas hinreißen ließ, das er später bedauern würde.
Froh, nicht länger seine Gegenwart ertragen zu müssen, widmete sich Elgiva wieder den Verwundeten. Dabei war ihr bewusst, dass er jede ihrer Bewegungen mit finsteren Blicken beobachtete. Der Wikinger würde Aylwin nicht finden, davon war sie überzeugt. Wenn er starb, würden die Freunde, die ihm bei der Flucht geholfen hatten, ihn beerdigen. Wenn er überlebte, würden sie ihn an einen sicheren Ort bringen, einen Ort, der nicht von Dänen beherrscht wurde. Dieser Gedanke erfüllte sie mit solcher Freude, dass sie ihre Erleichterung kaum verbergen konnte. Sie hatte Aylwin vielleicht nicht geliebt, aber sie freute sich über seine Flucht.
Um nicht länger darüber nachdenken zu müssen, ob ihr vormaliger Verlobter wohl noch lebte, wandte Elgiva sich drängenderen Angelegenheiten zu. An oberster Stelle stand dabei das Wohl ihrer Neffen. Nachdem die Invasoren gezeigt hatten, wie wenig ihnen das Leben eines Kindes bedeutete, behielt sie die zwei im Auge, so gut es ging. Pybba war noch zu klein, um zu verstehen, wie knapp er dem Tod entronnen war. Ulric dagegen wich tagelang nicht von Hildas Seite und klammerte sich an ihre Röcke, während er mit großen Augen ängstlich seine Umgebung beobachtete. Sobald einer der fremden Männer auftauchte, versteckte sich der Junge hinter dem Kindermädchen. Elgiva, die von seiner Verwundbarkeit tief gerührt war, setzte ihn oft auf ihre Knie und sang ihm etwas vor, während er sich an sie schmiegte, um Wärme und Geborgenheit zu spüren. Er wusste, bei ihr und Hilda war er in Sicherheit.
Auch wenn sie viele andere Aufgaben zu erledigen hatte, verbrachte Elgiva jeden Tag Zeit mit den Kindern. Sie wachte auch über Hilda, die bereits unter den Eroberern gelitten hatte. Vor allem war da dieser junge Mann namens Ceolnoth, der sie als Gefährtin für sein Bett auserkoren hatte. Alles Sträuben und Protestieren war vergebens gewesen. Elgiva wusste, sie konnte nichts sagen oder tun, was den Schmerz hätte lindern können. Aber die gequälte Miene der jungen Frau erinnerte sie jedes Mal daran, welches Schicksal auch sie hätte ereilen können.
Bislang hatte Wulfrum die Kammer, in der die Kinder untergebracht waren, nicht betreten, schließlich war die Kindererziehung Frauensache, da wollte er sich gar nicht erst einmischen. Seit er zum Herrn von Ravenswood ernannt worden war, wagte es keiner seiner Männer, den Kindern auch nur ein Haar zu krümmen. Doch als er eines Morgens durch den hinteren Teil des Saals ging, hörte er plötzlich eine Frau von Herzen lachen, während ein kleines Kind vergnügt quiekte. Er ging der Quelle dieser Geräusche nach und blieb vor einer offenen Tür stehen. Elgiva kniete auf dem Boden, vor ihr lag der ältere Junge auf einem Binsenteppich und kicherte lauthals, da sie ihn gründlich durchkitzelte. Auf der anderen Seite des Raums saß Hilda neben dem Kinderbett, in dem der Säugling lag, und beobachtete die beiden lächelnd.
Es war ein Bild unschuldiger Freude, das Wulfrum völlig in seinen Bann schlug. Diese Seite hatte er an Elgiva nie zuvor beobachten können, diese fröhliche, entspannte Elgiva, die lachte, als wäre alles in bester Ordnung. Die Knaben waren ihre Neffen, doch sie ging so liebevoll mit ihnen um, als wären sie ihre leiblichen Kinder.
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