HISTORICAL BAND 295
Männer sie mit gewissem Respekt. Keiner von ihnen hatte sich ihr in eindeutiger Absicht genähert oder auch nur eine entsprechende Bemerkung von sich gegeben. Osgifu ließen sie ebenfalls in Ruhe. Soweit Elgiva das beurteilen konnte, hatte der Jarl sich an sein Versprechen gehalten, keine weiteren ihrer Landsleute zu töten. Den meisten von ihnen war eine Aufgabe zugewiesen worden, auch wenn die Eroberer sie bei der Arbeit nicht aus den Augen ließen. Lediglich die Flüchtlinge, die man im Wald dingfest gemacht und zurückgebracht hatte, trugen immer noch Ketten und wurden streng bewacht. Die unterschiedlichsten Gerüchte kursierten darüber, welches Schicksal sie erwartete, aber Elgiva gab sich Mühe, die Situation mit verhaltener Zuversicht zu betrachten.
„Bestimmt wird er sie nicht töten. Er braucht Arbeiter, die das Feld bestellen und sich um das Vieh kümmern.“
Osgifu war schon skeptischer. „Er muss sie nicht zwangsläufig töten, um ihnen zu zeigen, wer der Herr ist.“
Dennoch verging ein Tag nach dem anderen, ohne dass sich etwas ereignete.
Als Elgiva an ihre Unterhaltung mit Osgifu zurückdachte, fragte sie sich unwillkürlich, ob ihre Zuversicht womöglich fehl am Platz war. Ganz gleich, was die Dänen entschieden, ihre Gefangenen würden ihnen gehorchen müssen. Wie alle anderen wurde auch sie ständig bewacht, aber sie war froh darüber, dass man sie weitgehend in Ruhe ließ. Sie wollte mit den Eroberern nur so viel zu tun haben wie unbedingt nötig. Jetzt, da sie wieder an der frischen Luft unterwegs war, fühlte sie sich rastlos, und ihr Blick wanderte von den Gräbern hinüber zum Wald. Das Grün, das mit seiner beruhigenden Abgeschiedenheit lockte, weckte Erinnerungen an glücklichere Tage, an denen sie ihren Vater und ihren Bruder auf die Jagd hatte begleiten dürfen, wenn sie ihr Pferd zum Galopp angetrieben hatte. Als sie an die aufgeweckte kleine Stute im Stall dachte, wurde ihr klar, dass auch das Reiten ihr nun verboten war.
Mühsam unterdrückte sie ihren Zorn und verteilte weiter Blumen auf den Gräbern. Ringsum nahmen kleine Gruppen ihrer Landsleute Abschied von Angehörigen, während Trauerstimmung wie eine düstere Wolke über dem Totenacker lag. Plötzlich bemerkte Elgiva, dass zwei ihrer Landsleute dicht hinter ihr waren, und als sie sich umdrehte, erkannte sie den Schmied Leofwine mit seinem Sohn Elfric. Leofwine sah kurz in ihre Richtung, dann murmelte er: „Herrin, wir müssen mit Euch reden.“
Sie nickte fast unmerklich, da sie wusste, sie wurde beobachtet. „Was gibt es denn, Leofwine?“
„Im Wald in einer Höhle nahe den alten Dolmen halten sich Männer von uns versteckt.“
„Wie viele?“
„Zwei.“
„Sie müssen von dort weg. Warum sind sie überhaupt noch da?“
„Einer von ihnen ist verletzt, Herrin. Mein Bruder Hunfirth. Er hat einen Schwerthieb in die Seite erlitten, und in seiner Schulter steckt ein Pfeil fest. Unser Cousin Brekka hat ihn nach der Schlacht weggebracht und in der Höhle versteckt. Ich habe auf ihn eingeredet, damit er sich in Sicherheit bringt, aber er will Hunfirth nicht in dieser schlechten Verfassung zurücklassen. Wir versorgen die beiden mit Essen, doch ich fürchte, mein Bruder wird sterben, wenn er nicht behandelt wird.“
Elgiva biss sich auf die Lippe. Sie und Osgifu standen unentwegt unter Beobachtung. Wenn sie sich heimlich auf den Weg machten, würden sie Jarl Wulfrum möglicherweise erst auf das Versteck aufmerksam machen. Andererseits konnten sie aber auch nicht untätig bleiben und zulassen, dass jemand ums Leben kam.
„Ich werde mir etwas ausdenken, Leofwine, das verspreche ich. Sobald ich etwas weiß, lasse ich es dir durch Osgifu ausrichten.“
„Gott segne Euch, Herrin.“
„Ich glaube, wir alle können seinen Segen gebrauchen“, erwiderte sie.
Er nickte beiläufig und entfernte sich gemächlich, um keine unnötige Aufmerksamkeit auf sie beide zu lenken. Unterdessen setzte Elgiva ihren Weg zwischen den Gräbern hindurch fort und durchquerte den Weiler, oder besser gesagt das, was noch davon übrig war. Überall hielt sich der Geruch von verbranntem Holz, die verkohlten Überreste der ausgebrannten Hütten zeugten von der Zerstörung, die hier angerichtet worden war. Nicht weit davon entfernt stand die traurig anzusehende Ruine der kleinen Kirche. Aus dem Dorf war ein Ort des Todes und der Zerstörung geworden. Und nun sah es auch noch so aus, als müssten weitere Männer sterben. Sie musste so bald wie
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