HISTORICAL BAND 295
entkommen waren. Falls sie zahlreich genug waren, konnten sie sich zusammenschließen und die Invasoren überwältigen. Wenn nicht, würde sie eben weiterziehen, bis sie unbesetztes Gebiet erreichte. Alles war besser, als die Frau eines Wikingers zu werden.
Sie sah sich um, bis ihr Blick auf einen leeren Eimer fiel. Wenn sie behauptete, Wasser aus dem Brunnen holen zu wollen, war das ein guter Vorwand, den Raum zu verlassen. Sie nahm den Eimer.
„Was hast du vor?“, fragte Osgifu besorgt.
„Ich kann hier nicht bleiben, Gifu.“
„Elgiva, denk nach.“
„Das habe ich bereits getan. Ich kann nicht tun, was sie von mir verlangen.“
„Wenn du wegläufst, werden sie dich finden und wieder herbringen. Diese Männer sind gnadenlos. Wer weiß, welche Bestrafung sie sich für dich ausdenken werden!“
„Es kann nicht schlimmer sein als das, was sie mir ohnehin antun wollen.“
„Tu es nicht, ich flehe dich an.“
„Ich kann nicht bleiben, um mit dem Wikinger verheiratet zu werden. Ich muss Hilfe holen. Du hast gesagt, dass einige unserer Männer in den Wald geflohen sind. Ich werde nach ihnen suchen.“
„Elgiva, warte doch!“
Aber sie hatte sich bereits auf den Weg zum Brunnen gemacht. Dabei schaute sie sich verstohlen um, da sie fürchtete, jeden Moment entdeckt zu werden. Nichts geschah, und sie erreichte unbehelligt den Brunnen, stellte den Eimer ab und sah sich abermals unauffällig um. Noch immer war niemand zu sehen, also nahm sie all ihren Mut zusammen und ging gemächlich zum Tor, um niemanden durch übertriebene Eile auf sich aufmerksam zu machen. Bei jedem Schritt rechnete sie damit, dass jemand sie aufhielt, doch auch das geschah nicht. Am Tor angelangt, warf sie einen Blick nach draußen, auch dort war alles verlassen. Der Weg war frei! Sie raffte ihre Röcke, dann rannte sie so schnell sie nur konnte über das freie Feld in Richtung Waldrand. Sie lief und lief, vergaß alles um sich herum, jetzt zählte nur noch, Ravenswood hinter sich zu lassen. So bemerkte sie zunächst nicht den Reiter, der ihr folgte.
Als sie das Hufgetrappel endlich wahrnahm, war der Reiter bereits dicht hinter ihr. Sie warf einen Blick über die Schulter und sah einen bedrohlich wirkenden Mann auf einem riesigen schwarzen Pferd. Mit letzter Kraft rannte sie weiter, von Verzweiflung getrieben. Die ersten rettenden Bäume waren keine hundert Schritt mehr entfernt. Wenn sie sie erreichte, würde sie vielleicht entkommen. Die Hufschläge hinter ihr kamen näher und näher, sie dröhnten in ihren Ohren und übertönten noch das laute Pochen ihres Herzens. Nur noch ein paar Schritte … aber da beugte sich der Reiter auch schon zur Seite, schlang ihr einen Arm um die Taille und riss sie hoch. Elgiva schrie auf, als sie bäuchlings über den Sattel gezogen wurde, sodass sie auf den Knien des Reiters lag. Er ließ sein Pferd noch eine Weile weitergaloppieren, sodass sie bald jeden Knochen in ihrem Körper spürte. Wut und Angst brodelten in ihr, während sie versuchte durchzuatmen. Schließlich hörte sie eine vertraute Stimme.
„Wolltest du dich davonschleichen, Elgiva?“
Ihr Magen verkrampfte sich. Wulfrum! Mit aller Macht versuchte sie, sich aus ihrer misslichen Lage zu befreien, aber er musste nur ihr nur eine Hand auf den Rücken legen, und schon war es ihr unmöglich, sich aufzurichten oder sich auch nur umzudrehen. Schließlich brachte er sein Pferd zum Stehen.
„Lass mich los, Grobian! Dänischer Trottel!“
„Grobian? Dänischer Trottel? Das sind schwere Beleidigungen.“ Wulfrum betrachtete sie interessiert von oben herab. „Mir scheint, ich muss dir erst mal Manieren beibringen.“
„ Ihr wollt mir Manieren beibringen? Ein Barbar?“
„Du hast mir wohl vorhin nicht richtig zugehört, Weib, als ich dir sagte, was passiert, wenn du dich mir noch einmal widersetzt.“
Plötzlich erinnerte sie sich an seine Warnung, und ihr Gesicht begann noch mehr zu glühen, da ihr klar wurde, in welch unvorteilhafter Haltung sie auf dem Pferderücken lag.
„Das würdet Ihr nicht wagen!“
„Ach nein?“
Seine flache Hand traf sie mit lautem Klatschen, und Elgiva stieß einen beleidigten Schrei aus, während sie abermals versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien.
„Lasst mich los! Bastard! Schwein! Ihr sollt mich loslassen!“
Ihre unglückliche Wortwahl brachte ihr ein weiteres halbes Dutzend Schläge ein, die sie mit wütenden Schreien kommentierte. Dabei schluckte sie die Beschimpfungen, die ihr in den
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