HISTORICAL BAND 295
Unwillkürlich musste er lächeln, als ihm ein neuer Gedanke kam: Eines Tages würde er selbst auch Söhne haben. Sein Blick wanderte wieder zu Elgiva, seiner zukünftigen Ehefrau. Ja, es würde schön sein, mit ihr Kinder zu haben. Eines Tages.
Obwohl er sich nicht gerührt und keinen Ton von sich gegeben hatte, spürten die Anwesenden in der Kammer, dass sie nicht mehr allein waren. Hilda entdeckte ihn als Erste, ihr Lächeln wich sofort einem ängstlichen Gesichtsausdruck. Als Elgiva Hildas Blickrichtung folgte, erstarrte sie mitten in der Bewegung. Auch der Junge schaute ihn mit weit aufgerissenen Augen an und verstummte. Wo eben noch ausgelassene Freude geherrscht hatte, lag mit einem Mal Anspannung in der Luft. Elgiva stand auf und drückte das Kind an sich.
„Herr?“, fragte sie ängstlich.
Einen Moment lang sah er sie an, während er krampfhaft überlegte, was er sagen sollte. Schließlich fragte er: „Geht es den Kindern gut?“
„Es geht ihnen gut“, antwortete sie.
„Bestens.“ Er hielt inne und betrachtete das Kind, das sie im Arm hielt. „Der Junge hat Angst.“
„Hat er dazu nicht auch allen Grund?“
„Nicht den geringsten.“ Er sah Elgiva in die Augen. „Solange es in meiner Macht steht, das zu verhindern, wird den Jungen nichts geschehen. Das verspreche ich dir.“
Sie schaute ihn überrascht an, brachte aber keinen Ton heraus. Seine Miene und sein Tonfall hatten aufrichtig gewirkt. Er war ihr Feind, und es war vollkommen widersinnig, doch sie wollte in diesem Augenblick auf seine Worte vertrauen.
Da sie nur weiter schwieg, fühlte er sich mit einem Mal fehl am Platz. Was hatte er erwartet? Dass sie ihm glaubte? Dass sie ihm das Leben der Kinder bedenkenlos anvertraute? Er hielt sich vor Augen, wie lächerlich der Gedanke war, daher machte er auf der Stelle kehrt und verließ die Kammer. Vertrauen ließ sich nicht befehlen, man musste es sich verdienen. Er wusste, er hatte in dieser Hinsicht bislang nicht viel getan.
Während er den Saal durchquerte, sah er im Geiste immer noch das Bild vor sich. Es verfolgte ihn den ganzen Morgen über. Er konnte einfach nicht vergessen, wie völlig verängstigt Hilda und der Junge ihn angesehen hatten und wie argwöhnisch Elgiva ihm begegnet war. Wofür hielten sie ihn eigentlich? Aber dann fiel ihm ein, was Sweyn mit den Kindern hatte machen wollen, als er gerade noch rechtzeitig dazugekommen war. Wulfrum seufzte. Der Junge hatte allen Grund, ihn zu fürchten, und für die Frauen galt das Gleiche. Es würde nicht so leicht sein, ihnen diese Furcht wieder zu nehmen. Aber bald würde Sweyn weiterziehen, und dann konnte er sie vielleicht davon überzeugen, dass er und seine Leute nicht so waren wie Sweyn. Solange er lebte, das schwor sich Wulfrum, würde keinem von ihnen ein Leid geschehen. Er war der Herr von Ravenswood, und es fiel in seine Verantwortung, für ihre Sicherheit und Unversehrtheit zu sorgen. Zum ersten Mal spürte er, wie schwer diese Verantwortung auf ihm lastete.
Mehrere Tage waren nötig, um alle Gefallenen zu beerdigen, da auf beiden Seiten zahlreiche Tote zu beklagen waren. Schließlich aber waren alle beigesetzt. Elgiva stand eine Weile bei den Gräbern ihrer Landsleute und sprach leise Gebete für sie, da es Pater Willibald nicht erlaubt wurde, bei den Bestattungen anwesend zu sein oder eine Messe für die Seelen der Toten abzuhalten. Wulfrum hatte ihr nicht verboten, den Beerdigungen beizuwohnen, was Elgiva verwunderte. Dass er sich nicht einmischte, lag womöglich auch daran, dass seine Männer genug damit zu tun hatten, ihre eigenen Gefallenen beizusetzen. In einiger Entfernung standen ein paar Wikinger und beobachteten aufmerksam, was sich bei den Angelsachsen abspielte. Ihre Anwesenheit machte ihnen allen noch einmal deutlich, wer die neuen Herrscher auf Ravenswood waren.
Eine kühle Brise fuhr durch die Baumkronen ringsum und ließ Elgiva schaudern. Sie zog den Umhang enger um sich und kämpfte gegen die Angst an. Wie ein Blatt, das von einer Windböe mitgetragen wurde, besaß auch sie nicht länger die Kontrolle über die Ereignisse, die über ihre Zukunft entschieden. Nichts von dem, was sie gekannt und geliebt hatte, existierte noch. Bis vor Kurzem war sie noch ein völlig anderer Mensch gewesen. Jetzt war sie eine Gefangene wie alle anderen hier, kaum mehr als eine Sklavin.
Obwohl … das stimmte so nicht, wie sie einräumen musste. Seit Wulfrum seine Absicht kundgetan hatte, sie zu heiraten, behandelten seine
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