HISTORICAL BAND 295
den Mund, um einen Entsetzensschrei zu unterdrücken. Hilflos sah sie zu, wie Wulfrum sich hinkauerte und das stumpfe Ende des Speers gegen den Boden stemmte, um mehr Halt zu haben. So dicht war der Eber bereits vor ihm, dass Wulfrum sich nur noch zur Seite werfen konnte. Das stattliche Tier stürmte an ihm vorbei und hätte ihn fast verfehlt, doch einer der Hauer erwischte ihn und riss den Ärmel seines Waffenrocks auf. Sofort hatte Wulfrum sich wieder hingekniet und den Speer auf den Eber gerichtet, der blitzschnell kehrtgemacht hatte und vor Wut schnaubend erneut auf ihn zuhielt.
Kreidebleich beobachtete Elgiva, wie das Tier ungebremst in die Speerspitze rannte, die sich tief in seine Brust bohrte. Vor Schmerz und Wut brüllte die Bestie auf. Blut spritzte auf Wulfrums Brust und Arme und tränkte seine lederne Kleidung, während er mit dem Eber rang, der sich mit aller Kraft zur Wehr setzte, obwohl sein Ende längst besiegelt war. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis das Tier sich noch einmal aufbäumte, zur Seite kippte und dann reglos liegen blieb. Starr vor Angst verfolgte Elgiva, wie Wulfrum angestrengt atmend aufstand und sich zu ihr umdrehte.
„Bist du verletzt?“
Sie schüttelte den Kopf, brachte aber keinen Ton heraus, da sie mit einer drohenden Ohnmacht kämpfte. Wulfrum kam zu ihr, nahm sie in die Arme und drückte sie an sich. Er spürte, wie sie am ganzen Leib zitterte.
„Es ist vorbei“, sagte er leise. „Die Bestie ist tot.“
Erleichtert suchte sie Zuflucht in seinen starken Armen, da sie fürchtete, die Beine könnten jeden Moment unter ihr wegknicken. Sie kniff die Augen zu und lauschte dem lauten Pochen ihres Herzens. Nur dank Wulfrum war sie knapp entkommen. Erst jetzt bemerkte sie, dass er leise auf sie einredete, um sie zu beruhigen und ihr die Angst zu nehmen. Es war diese Sanftheit, die dazu führte, dass ihr die Tränen kamen, und diesmal konnte sie sie nicht zurückhalten. Die Anspannung der letzten Wochen überwältigte sie. Auch wenn sie mutig allem getrotzt hatte, was sich ihr in dieser Zeit in den Weg gestellt hatte, stieß dieser Mut jetzt an seine Grenzen.
In diesem Moment wurde Wulfrum klar, dass er sie bisher noch kein einziges Mal hatte weinen sehen. Aus ihrem Schluchzen hörte er all die Dinge heraus, die ihr auf der Seele lasteten – den Schmerz und die Ängste, die sie vor ihm verborgen hatte. Als er verstand, was sie durchgemacht haben musste, hielt er sie noch fester an sich gedrückt. Eine Zeit lang standen sie eng umschlungen da, bis ihr Schluchzen leiser wurde und ihr Gesicht wieder etwas Farbe bekam. Schließlich lächelte er sie an.
„Es ist alles gut“, versicherte er ihr. „Dir passiert nichts.“
Elgiva sah ihn an. „Oh, Wulfrum, wärst du nicht gekommen …“
„Ich würde niemals zulassen, dass dir etwas zustößt.“
Er sagte es, als sei es völlig alltäglich, ganz allein einen Eber zu töten, doch sie wusste, in Wahrheit hatte er sein Leben für sie aufs Spiel gesetzt.
„Danke“, murmelte sie. Dieses kleine Wort war eigentlich viel zu wenig für das, was er getan hatte, doch sie war sich sicher, dass er wusste, wie sehr es von Herzen kam.
Einen Augenblick lang rührte sich keiner von beiden, bis sie fast bedächtig die Arme hob, die Hände an sein Gesicht legte und seinen Kopf nach vorn zog, um ihn auf den Mund zu küssen. Völlig verblüfft sah er ihr in die Augen und wagte kaum zu glauben, was er dort entdeckte. Dann küsste sie ihn ein weiteres Mal, und überwältigt von seiner leidenschaftlichen Sehnsucht drückte er sie fest an sich. Diesmal widersetzte sie sich nicht seiner Umarmung – ganz im Gegenteil, sie schlang sogar die Arme um seinen Nacken, während sie ihn noch inniger küsste. So oft hatte er von diesem Augenblick geträumt, dass er sich nicht ganz sicher war, ob das hier tatsächlich geschah oder ob er es sich nur einbildete.
Auf einmal hörte er, dass sich mehrere Reiter näherten, und widerwillig ließ er die Arme sinken. Elgiva löste sich von ihm. Dabei strich ihre Hand über zerrissenes Leder und klebriges Blut. Sie stutzte und sah ihn an. „Wulfrum, du bist verletzt!“
„Das ist nichts. Der Eber hat mich mit seinem Hauer nur gestreift.“
„Lass es mich sehen.“
Er streckte den Arm aus und zeigte eine Fleischwunde, die zwar nicht tief war, aber ganz erheblich geblutet hatte. Hemd und lederner Waffenrock waren blutgetränkt.
„Wenn wir zu Hause sind, muss die Wunde gereinigt und verbunden werden“,
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