HISTORICAL BAND 295
ansetzte und den schmalen Pfad entlangjagte, der sich zwischen den Bäumen hindurchschlängelte. Wieder musste sie den Kopf einziehen, um niedrigen Ästen auszuweichen. Sie war dankbar für die robuste Kleidung, die dafür sorgte, dass die kleineren Zweige ihr nichts anhaben konnten. Während sie durch das dichte Grün hetzten, glaubte sie, eine helle Fläche ausmachen zu können, und hielt darauf zu. Tatsächlich gelangte sie auf eine Lichtung, umstanden von Bäumen, zwischen denen Dickicht wuchs. Irgendwo rechts von ihr mussten Wulfrums Männer unterwegs sein, sie hörte ihre Stimmen, konnte sie aber nicht sehen.
Schnell wandte sie sich nach links, doch auch dort war nichts zu entdecken. Kurz darauf bemerkte sie ihren Fehler: Da sie nicht nach vorn gesehen hatte, bemerkte sie den niedrig hängenden Ast vor sich erst, als sie sich unmittelbar davor befand. Augenblicklich reagierte sie und duckte sich gerade noch rechtzeitig zur Seite. Doch dadurch verlor sie für einen Moment den Halt im Sattel und streckte die Beine nach oben. So wurde nicht ihr Kopf von dem dicken Ast getroffen, sondern ihr Knie. Sie wurde aus dem Sattel gehoben und von ihrem Pferd geschleudert, schlug hart auf dem Boden auf und blieb einige Augenblicke lang reglos liegen, während sich über ihr das Laubdach im Kreis zu drehen schien. Erst als dieser Schwindel sich gelegt hatte und sie wieder tief und gleichmäßig atmen konnte, setzte sie sich vorsichtig auf und begann, ihren Körper abzutasten. Sie schien keine ernsthaften Verletzungen davongetragen zu haben, doch als sie aufstand, spürte sie einen schmerzhaften Stich im getroffenen Knie. Missmutig betrachtete sie es und dachte, dass es morgen sicher von einem großen blauen Fleck verunstaltet sein würde. Andererseits hätte es auch viel schlimmer kommen können, und stumm dankte sie ihrem Glück für diesen glimpflichen Ablauf.
Ihr Pferd war ein Stück entfernt stehen geblieben und graste in aller Ruhe. Elgiva war noch ein paar Schritte von Mara entfernt, als die auf einmal den Kopf in den Nacken warf und aufgeregt schnaubte. Eilig humpelte Elgiva näher heran und redete leise auf die Stute ein, doch die reagierte nicht darauf, sondern starrte auf eine Stelle im Dickicht zwischen den Bäumen. Als Elgiva dem Blick ihres Pferds folgte, erstarrte sie vor Schreck. Zum Teil noch in den Schatten des Dickichts verborgen stand ein riesiger Eber da, dessen Augen in der Morgensonne bedrohlich funkelten. Der Eber warf den Kopf mal nach links, mal nach rechts, wobei Erdbrocken durch die Luft flogen, die an den gewaltigen Hauern hängen geblieben waren.
Zitternd machte Elgiva die restlichen Schritte zu ihrem Pferd und tastete nach den Zügeln, doch in dem Moment ging Mara durch und stieß sie unsanft zur Seite. Elgiva verlor das Gleichgewicht und fiel nach hinten. Der Eber bemerkte die plötzliche Bewegung des fliehenden Pferds und wollte auf das Tier losgehen, da stieß Elgiva einen gellenden Schrei aus. Der Eber hielt inne, drehte sich zu ihr um und hob den Kopf, um zu wittern. Wieder schrie sie auf, rappelte sich auf und bewegte sich vorsichtig Schritt für Schritt nach hinten. Wenn der Eber sie erreichte, würde er sie in Stücke reißen, das war ihr klar. Sie hatte keinen Speer zur Hand, nur das kleine Messer, das sie unter ihren Gürtel geschoben hatte. Damit würde sie gegen dieses gewaltige Tier rein gar nichts ausrichten können. Hektisch sah sie sich die Bäume um die Lichtung herum an, musste aber einsehen, dass die Äste zu weit oben aus dem Stamm wuchsen, um sich in einer Baumkrone in Sicherheit zu bringen – ganz zu schweigen davon, dass sie es vermutlich nicht geschafft hätte, einen der Bäume zu erreichen. Der Eber kam ein Stück auf sie zu und scharrte mit einem Vorderhuf, sodass Erde in großen Brocken nach hinten flog.
Elgiva sah ihr letztes Stündlein gekommen.
Wie erstarrt kauerte sie auf dem Waldboden. Da vernahm sie Hufgetrappel, und im nächsten Moment schoss ein riesiges schwarzes Pferd zwischen den Bäumen hervor. Nur wenige Schritte von ihr entfernt kam es zum Stehen. „Wenn dir dein Leben lieb ist, Elgiva“, rief eine vertraute Stimme, „dann rühr dich nicht von der Stelle.“
Ihr Herz raste, als sie sah, dass Wulfrum absaß. In der Rechten hielt er einen großen Speer. Keinen Augenblick ließ er den Eber aus den Augen, während er sich ihm vorsichtig näherte. Der wandte sich seinem neuen Gegner zu und stürmte ohne Vorwarnung los. Elgiva hielt sich die Hand vor
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