Historical Band 298
sie. In dem engen Raum wurden sie beide und das Geheimnis, das sie miteinander teilten, davon eingehüllt.
Sie beendete die Konjugation, und Duncan stellte ihr keine neue Aufgabe. Unsichtbar für sie saß er still und düster vor sich hin brütend in der finsteren Kammer.
„Genug für heute Abend“, sagte er schließlich.
Jane merkte, dass er aufstand, und streckte tastend die Hand aus. Als sie seine Brust berührte, hielt sie inne. Sofort ergriff er ihre Hand und wollte sie fortstoßen. Aber sie verschränkte die Finger mit seinen, sodass sein Versuch, sie von sich fernzuhalten, damit endete, dass er sie festhielt.
Seine Brust hob und senkte sich heftig, und Jane wehrte sich vergebens gegen seinen Duft, den sie mit jedem Atemzug einatmete.
Plötzlich umfassten seine Hände ihre Schultern, und sie wurde gegen die Wand gedrückt. Seine Lippen, seine Zunge forderten stürmisch ihren Mund. Sie gab sich ganz dem Gefühl hin, war nicht länger Mann oder Frau, war nur noch Empfindung. Wie ein reißender Strom sich mit einem Fluss vereint und man nicht sagen kann, wo der eine anfängt und der andere aufhört, fühlte sie sich eins mit ihm. So, wie sie es sich Tag für Tag gewünscht hatte, war sie jetzt wirklich mit ihm zusammen.
Dann wurde alles anders.
Sein eben noch so drängender und leidenschaftlicher Kuss war plötzlich fordernd und brutal. Janes Gefühl sagte ihr, dass sie Duncan und den Augenblick der Vereinigung mit ihm verloren hatte. Sein Kuss war nicht länger die Belohnung dafür, dass sie eine Frau war. Jetzt strafte er sie dafür, dass sie kein Mann war.
Sie wandte den Kopf zur Seite und riss sich nach Luft schnappend von ihm los. Duncans schwere Atemzüge streiften ihr Ohr.
Dann fiel sein Kopf auf die Brust. Resigniert ließ er die Arme sinken und wandte Jane den Rücken zu. Als sie nach seiner Schulter griff, wirbelte er zu ihr herum und stand so dicht vor ihr, dass sie den wilden Zorn in seinem Gesicht erkennen konnte.
„Keine Spielchen mehr, John oder Jane oder wer immer du bist. Ich kann dich nicht küssen, wenn du in Jungenkleidern herumläufst.“
„Das ist kein Spiel.“ Sie sprach leise und eindringlich. Schließlich durfte niemand sie beide hier entdecken.
„Dann entscheide dich. Frau oder Junge. Was bist du?“
„Jetzt bist du derjenige, der Spielchen spielt. Du weißt, was ich bin.“ Sie war eine Frau. Sie konnte dagegen ankämpfen, aber sie konnte es nicht leugnen. Nicht, wenn sie in seinen Armen lag.
„Dann sei eine Frau, Jane.“
„Nenn mich nicht so! Und hör auf, mich so anzusehen.“ Das Flehen in ihrer Stimme war genau so eindringlich wie sein zwingender Blick. Wenn sie Duncan in die Augen sah, war sie bereit, auf alles zu verzichten, nur um wieder in seinen Armen liegen zu können.
„So kann es nicht weitergehen. Das halte ich nicht aus.“
Jane stockte der Atem. Sie wusste, was dieses Geständnis für ihn bedeutete. Sie konnte es auch nicht aushalten.
„Wähle. Mann oder Frau. Du kannst nicht beides sein.“
Aber sie war es doch. Im Zusammenleben mit ihnen war sie beides und nichts von beidem; eine gefangene Kreatur ohne Hoffnung auf Erlösung. „Ich kann nicht nur eines sein.“ Und ganz bestimmt nicht nur eine Frau, gefangen in einem Käfig von Verboten, so starr wie Eisenstäbe.
„Was ist denn so schlecht an dem, was du bist? Das Leben einer Frau hat seine Vorteile.“
„Vorteile?“ Jetzt war sie ebenso wütend wie er. „Ich sehe nur Privilegien, die mir verweigert werden. Privilegien, nach denen eine Mann bloß die Hand ausstrecken muss, um sie zu erhalten.“
„So einfach siehst du das, was?“
„So einfach sehe ich das?“ Ihre Wut wuchs. „Ohne Erlaubnis kann ich noch nicht einmal ein Buch aufschlagen!“
„Wozu braucht eine Frau ein Buch? Ihr wisst doch schon mehr, als ich je aus irgendeinem Buch lernen kann.“
Jane fiel das Kinn herunter. Sie brachte kein Wort heraus.
„Männer sind doch nur dumpfe Tiere, die sich hier auf Erden unter dem Joch der Verantwortung abrackern.“ Er hob die Hände, und sie konnte fast die schweren Fesseln an seinen Handgelenken sehen. „Ihr könnt Schönheit schaffen, Ordnung herstellen, für Wärme und Sanftmut sorgen – verdammt noch mal, sogar Leben erschaffen. Es gibt kein Buch, das mich so etwas lehren könnte.“
Sie erinnerte sich an ihre Unterhaltungen. Geheimnisvoll. Gefühle. Unbeständig.
Wenn er sich nicht beherrscht, beherrscht sie ihn.
All das waren unausgesprochene Ängste vor einer
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