Historical Band 298
Herberge zu ordern.
Sofort fiel ihr der Fremde auf. Nach drei Monaten wusste sie, wer hierhergehörte und wer nicht. Sie konnten anhand der Kleidung und des Auftretens einen Bakkalaureus von einem Master unterscheiden, einen Doktor von einem Kaufmann und einen Wirt von einem Apotheker.
Dieser Mann – mittlere Größe, ungewöhnlich große Ohren – gehörte nicht zu ihnen.
Mit Entsetzen erkannte sie in ihm einen Bediensteten ihrer Familie.
Sie trat hinter die Schankmagd und achtete darauf, dass ihr Gesicht im Schatten verborgen blieb. Hatte Hawys’ Bruder zu viel geschwatzt? Wussten sie jetzt, dass sie in Cambridge war?
„Kann ich Euch helfen?“, fragte die Schankmagd den Fremden.
„Ich suche nach einem flüchtigen Mädchen.“
Hin und her gerissen zwischen der Angst, entdeckt zu werden, und dem Drang, ihn nach Neuigkeiten über ihre Familie auszufragen, senkte Jane den Kopf noch tiefer. Ihr Herz schlug so heftig, dass es ihr fast aus der Brust sprang.
„Hab hier keines gesehen“, antwortete die Schankmagd. „Was hat sie denn verbrochen?“
„Oh, nichts dergleichen. Sie ist von zu Hause fortgelaufen, und jetzt sucht ihre Familie nach ihr.“ Er legte seinen Mantel ab und setzte sich. „Ich nehme ein Bier. Jetzt im November sind die Straßen ganz schön kalt.“
Jane kam etwas näher, während die Frau dem Mann einschenkte und mit ihm über die Beschwerlichkeiten des Reisens plauderte. Würde er sie erkennen? Konnte sie ihn täuschen? Wenn sie Neuigkeiten von zu Hause erfahren wollte, musste sie es versuchen.
„Wie sieht das Mädchen denn aus?“, fragte sie mit möglichst tiefer Stimme. Sie lehnte sich an den Tisch und hielt sich die Hand über Mund und Nase, als würde sie sich nachdenklich die Wange streichen.
„Ungefähr siebzehn. Blonde Haare, blaue Augen, wenig Kurven.“ Er lachte und sah sie kaum an.
Jane zog die Schultern hoch bei der Beleidigung. „Warum ist sie abgehauen?“ Sie war neugierig, was dieser Mann sagen würde. Was hatte ihre Familie ihm über sie erzählt?
„Das ist das Rätselhafte an der Sache. Sie hatte keinen Grund, ihr Heim zu verlassen. Dort hatte sie ein wunderbares Leben, eine Familie, die sie liebte, und einen Bräutigam, der schon auf dem Weg zu ihr war.“
Jane schluckte schwer. Sie brachte kein Wort heraus. Ihr Leben, das für sie einem Gefängnis glich, erschien anderen wie das Leben in einem Palast.
Die Schankmagd schüttelte den Kopf. „Ein Mädchen aus einer adeligen Familie läuft einfach so fort? So was hab ich ja noch nie gehört.“
„Eine wirklich adelige Familie.“ Er beugte sich vor, senkte die Stimme und die Schankmagd rückte ebenfalls näher. „Ihre Mutter ist Alys de Weston.“
Die Schankmagd schnappte nach Luft. „Dann ist ihr Vater der alte König!“
Er nickte. „In ihren Adern fließt königliches Blut. Das ist mal gewiss.“
Jane merkte, dass sie sich gerader aufrichtete, wie immer, wenn ihr Vater erwähnt wurde.
„Eine traurige Geschichte“, meinte die Schankmagd kopfschüttelnd. „Eine Frau allein gerät schnell auf die schiefe Bahn, besonders, wenn sie jung und unerfahren ist. Ich habe genug von denen hier ankommen sehen, kann ich dir sagen. Aber die hier nicht. Vielleicht war sie dumm genug, dem ersten Gesetzlosen, der ihr begegnete, in die Klauen zu fallen, und ist längst tot.“
Wäre Duncan nicht Duncan, hätte das wirklich ihr Schicksal sein können.
„Das habe ich ihnen auch gesagt.“ Er zuckte die Schultern. „Sie ließen mich jedes Städtchen zwischen London und Oxford abklappern. Meiner Meinung nach latsche ich nur sinnlos von Pontius zu Pilatus. Aber ich tue, was man mir aufgetragen hat. Jetzt denken sie, sie könnte vielleicht hier sein.“
Die Schankmagd gurrte mitfühlend über sein hartes Los und stellte den Humpen vor ihn hin.
Er trank einen großen Schluck, wischte sich mit dem Ärmel über den Mund und seufzte zufrieden. „Und wisst Ihr was? Ihre Familie glaubt, dass sie vielleicht Männerkleider trägt.“
Jane sackte in sich zusammen und verschränkte schnell die Arme vor der Brust, um die Bandage zu verbergen, die ihr plötzlich verräterisch erschien.
Froh darüber, dass man ihm zuhörte, wartete der Mann gar keine Antwort ab. „Aber ich sage, das ist dummes Gerede. Auf eigenem Grund und Boden hat sie sich so angezogen, aber keine Frau würde so etwas tun. Nicht draußen, in der Welt.“
Zufrieden darüber, dass dieser Ochse, wie alle anderen, nicht sah, was er vor der Nase hatte,
Weitere Kostenlose Bücher