Historical Collection 04
neigte sie schlicht den Kopf.
„Sieh mich an“, befahl der Sultan. Sie rang ihre Furcht nieder und schaute auf. Süleyman der Prächtige war hochgewachsen und schlank. Seine safrangelben Gewänder glitzerten vor Diamanten, und auf dem Haupt trug er einen weißen Turban. Sein Bart war ergraut, doch trotz der Falten im Gesicht und an den Händen kündete sein Blick von ungebrochener Macht.
„Es kommt höchst selten vor, dass eine neue Sklavin ein derartiges Aufsehen erregt“, setzte der Sultan an. „Wie ich erfahren habe, hat mein Sohn dir gestattet, den Harem zu verlassen, und dich in die Stallungen gebracht.“
Sie nickte, noch immer unsicher, ob sie nun sprechen durfte oder nicht.
„Ebenfalls ist mir zu Ohren gekommen, dass du dich auf dem Sklavenmarkt furchtlos ein paar steigenden Pferden genähert und sie allein mit deiner Stimme beruhigt hast. Auf dem Marktplatz wird gemunkelt, du seiest eine Zauberin.“
Laila öffnete den Mund und warf dem Sultan einen fragenden Blick zu. Er verschränkte die Arme vor der Brust und nickte. „Erkläre dich.“
„Euer Majestät, ich bin mit Pferden aufgewachsen und mit ihnen vertraut. Sie wissen, dass ich ihnen nichts tue. Ich habe meinem Vater beim Zureiten der Araber geholfen, die wir verkauft haben.“
Abermals nickte der Sultan, und Laila sah eine Spur Neugier in seinen Augen. Er streckte die Hand aus, und der kızlar ağası trat vor und reichte ihm das Pergament, das Laila die Freiheit zugestand. Sie zwang sich, den Kopf zu senken und auf den Marmorfußboden zu starren. Ihr Puls flatterte. Was wollte der Sultan von ihr?
„Eine jede Frau, die Aufnahme in meinem Harem findet, wird zu meinem Eigentum. Khadin hat nicht das Recht, dir die Freiheit zu schenken.“
Sie wagte nicht, den Blick zu heben. Was plante er nur? Er hatte Khadins Mutter getötet, weil diese sich geweigert hatte, das Bett mit ihm zu teilen. Würde er auch sie töten? Sie kannte den Sultan nicht gut, denn ihre Sippe war stets von Ort zu Ort gezogen. Es hieß, er sei ein gerechter Herrscher, jedoch gnadenlos gegenüber seinen Feinden.
Aber wie hatte es dazu kommen können, dass er seinen Sohn als Feind betrachtete? Das verstand sie nicht. Schweigen senkte sich über den Saal, und nach einer Weile riskierte Laila einen Blick auf Khadin. Er erwiderte den Blick aus seinen blauen Augen, und sie sah die Entschuldigung darin. Er hatte Laila in den Palast gebracht, weil er sie hier sicher wähnte, und nun würde er womöglich nie wieder in seine geliebte Provinz zurückkehren.
Der Sultan beugte sich vor, die Armlehnen seines Throns so fest umklammert, dass seine Fingerknöchel hervortraten. Seine ganze Haltung drückte Unmut aus. „Khadin“, sagte er gefährlich leise. „Das Volk von Nerassia verehrt dich. So sehr, dass mir durch mehrere Besucher aus deiner Provinz zugetragen wurde, man wünsche sich dich als nächsten Sultan – anstelle von Selim, meinem Erben.“ Und noch leiser fügte er an: „Ich werde nicht zulassen, dass du deinen Bruder stürzt.“
Er hob die Schlinge auf und legte sie seinem Sohn um den Hals.
Khadin widerstand dem Drang, sich gegen seinen Vater zu wehren. Die Kordel lag ihm nur lose um den Hals – eine Drohung, die jeden Augenblick in die Tat umgesetzt werden konnte. Er wusste, dass hier sein Gehorsam auf die Probe gestellt wurde. Mühelos hätte er seinen Vater niederringen und sich befreien können, doch die Wachen hätten ihn für dieses Vergehen geköpft. Eine Chance hatte er nur, wenn er sich vollkommen still verhielt.
Seinem Vater zitterten die Hände, was niemand außer Khadin bemerkte. Im Grunde seines Herzens glaubte er nicht, dass sein Vater ihn sterben sehen wollte. Doch das Osmanische Reich bedeutete dem Sultan alles; zum Wohle seines Reiches hätte er sich den rechten Arm abgehackt. Dennoch meinte Khadin, ein Zögern, einen Widerwillen in seinen Bewegungen zu spüren.
„Ich kann nicht dulden, dass meine Söhne einander bekriegen“, murmelte sein Vater und zog die Kordel straffer. „Mustafa hat sich bereits gegen mich erhoben, sodass ich gezwungen war, ihn mit meinen eigenen Händen umzubringen. Es verlangt mich keineswegs danach, dasselbe mit dir zu tun, aber wenn dein Volk Selims Thronbesteigung gefährdet, habe ich keine andere Wahl.“
Mit einer Hand hielt er die Kordel, die andere hatte er Khadin aufs Haar gelegt. Nur Khadin spürte die Sanftheit, die in dieser unterschwelligen Liebkosung lag, während die andere Hand die Macht zu töten
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