Historical Collection Band 01
sich von ihr zu lösen?
Mit bebenden Fingern strich sie sanft über seine Lippen.
Er wandte sich abrupt ab.
Sogleich ließ sie die Hand sinken.
„Genug! Ich habe mir geschworen, dass es nicht noch einmal passieren darf.“ Er holte tief Luft, versuchte, seiner Stimme einen sanften Klang zu geben, um Loveday nicht zu sehr zu kränken. „Morgen werde ich London verlassen. Wenn ich zurückkehre, bin ich wahrscheinlich verlobt.“
Sie stand wie erstarrt.
„Es ist gewiss besser, wenn wir uns nicht wiedersehen“, fuhr er fort. „Richten Sie Lionel bitte aus, wie leid es mir tut, dass ich ihn nicht angetroffen habe. Mein Butler wird mir Bescheid geben, wenn die Wandgemälde fertig sind.“
Er trat aus dem Durchgang hinaus, ohne es zu wagen, Loveday noch einmal anzuschauen. Den Blick fest auf die Stufen gerichtet, die zu ihrer Wohnung hinaufführten, überquerte er rasch den Hof. Dabei war er sich sehr deutlich der Tatsache bewusst, dass Loveday direkt hinter ihm war und dass es sie zweifellos einige Mühe kostete, mit ihm Schritt zu halten. Direkt vor der Treppe holte sie ihn ein, drängte sich an ihm vorbei und öffnete die Tür.
Eine Lampe musste im Raum brennen, denn ein heller Lichtschein fiel auf die dunkle Treppe hinaus. Widerstreitende Gefühle erfüllten Everett. Einerseits war er erleichtert, denn offensichtlich war Lionel nach Hause zurückgekehrt. Ein abgetragener alter Mantel lag, achtlos hingeworfen, auf einem Stuhl. Der Zettel mit der Nachricht, die Loveday für ihren Bruder geschrieben hatte, war verschwunden.
Gut! Das bedeutete, dass Loveday sich in Sicherheit befand. Warum aber war er dann trotzdem so enttäuscht?
„Warten Sie, bitte“, sagte sie in diesem Moment, „Sie dürfen Ihren Mantel nicht vergessen.“ Mit bebenden Fingern machte sie sich an einem der Verschlüsse zu schaffen.
Verwundert bemerkte Everett, dass sie am ganzen Körper zitterte. Ein seltsamer Schmerz durchfuhr ihn. In dem Versuch, Loveday zu beruhigen, streckte er die Arme aus und nahm ihre Hände in die seinen. „Behalten Sie den Mantel einfach.“
„Ich soll ihn behalten?“ Sie schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht. Er ist viel zu wertvoll.“
„Was er gekostet hat, ist unwichtig. Für mich besteht sein Wert darin, dass er Sie warmhalten kann.“
„Aber …“
„Behalten Sie ihn. Mir zuliebe. Bitte!“ Er brachte ein Lächeln zustande und voller Stolz auf seine eigene Willensstärke wandte er sich ab. „Gute Nacht.“
Loveday fror trotz des warmen Mantels, den sie noch immer nicht ausgezogen hatte. Es war eine innere Kälte. Sie fühlte sich so verlassen, so allein. Everett war fort. Geblieben war nur der Duft nach seinem Rasierwasser, der sich in dem Kleidungsstück gefangen hatte, sodass sie ihn bei jedem Atemzug wahrnahm.
Einen Moment lang blieb sie reglos stehen. Langsam wurde ihr wieder warm. Ja, tatsächlich hatte sie mit einem Mal das Gefühl, dieser Mantel, der ihr nicht einmal passte, könne ihr so etwas wie Sicherheit vermitteln.
Himmel, welch ein Unsinn! Selbst in Everetts Armen gab es keine Sicherheit für sie. Das war ihr klar geworden, als sie diesen unverschämten Huntercombe getroffen hatten, der sie angeschaut hatte, als sei sie eine Leckerei, die er unbedingt kosten wolle. Später, als Everett sagte, er würde bald heiraten, war sie noch einmal sehr deutlich daran erinnert worden, dass es in seinem Leben keinen Platz für sie gab – es sei denn, sie gäbe sich damit zufrieden, seine Geliebte zu sein.
Sollte sie ihn deshalb verurteilen? Nein, das brachte sie nicht über sich. Schließlich wusste sie nur zu genau, wie die Realität aussah.
Er war ein Viscount. Er würde eine passende Gattin wählen, Erben zeugen und seinen Reichtum vermehren. Es wäre unfair gewesen, ihm vorzuwerfen, dass er ihr nicht bieten konnte, was sie sich so sehr wünschte. Zumal er sich aus Rücksicht auf sie verabschiedet hatte, ohne sich zu nehmen, was sie ihm wider alle Vernunft so gern gegeben hätte. Ja, er war ein kluger und rücksichtsvoller Mann.
Sie lebte in einer Welt, er in einer anderen. Und auch wenn er gelegentlich die Grenze zwischen den Welten überschritt, um zu ihr zu kommen, so würde sie doch nie in der Lage sein, ihm in seine Welt zu folgen. Wenn sie ihn gebeten hätte, die Nacht mit ihr zu verbringen, wäre er wahrscheinlich geblieben. Aber das hätte auch bedeutet, dass sie ihm die Wahrheit hätte sagen müssen. Die ganze Wahrheit. Dann hätte er begriffen, in welch unglaublichem
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