Historical Collection Band 01
schwanden?
„Auder“, murmelte er, und seine Stimme nahm einen tieferen Klang an. Beinahe hörte sie die unausgesprochene Warnung, dass sie ihn zu sehr herausforderte.
Um sich abzulenken, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf seine schwieligen, zerkratzten Hände. „Du hast am neuen Wall gearbeitet, nicht wahr?“, fragte sie, drehte seine Handflächen ins Licht und entdeckte ein paar Splitter. Vorsichtig zog sie einen heraus.
Gunnar entwand ihr seine Hände. Ertrug er die Berührung nicht länger? „Der Wall ist fast fertig.“
Nun kehrte die Distanz zurück und mit ihr eine peinliche Stille. Seit Auder ihm zum ersten Mal begegnet war, hatte sie ihn nur selten untätig gesehen. Er mochte es, Bauwerke zu errichten. Und genoss es, mit seinen Händen Dinge zu erschaffen. Sein Heim zählte zu den schönsten, die sie kannte. Wehrhaft dank starker Mauern.
Die Stirn gerunzelt, inspizierte sie die aufgeschürfte Haut seiner Hände. „Was du dir zugemutet hast, wird Clár nicht gefallen.“ Absichtlich erwähnte sie die Witwe, um sich daran zu erinnern, dass er mit einer anderen eine enge Beziehung unterhielt.
„An meine rauen Hände ist Clár gewöhnt.“
Von dieser Bemerkung angeregt, malte sie sich unwillkürlich aus, Gunnars schwielige Fingerspitzen würden über ihren eigenen Körper gleiten. Ihre Haut erhitzte sich, in ihrer Brust entstand ein seltsamer Schmerz. Was geschah mit ihr? Wusste sie es nicht besser, als so törichten Gedanken nachzuhängen? Hastig verbannte sie die Fantasiebilder. So etwas durfte sie sich nie mehr vorstellen.
„Ja, das nehme ich an.“ Sie schaute durch eine der Fensteröffnungen des Saals hinaus in die Abenddämmerung. Plötzlich empfand sie das Bedürfnis, diesen Grenzen zu entfliehen. Um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, brauchte sie frische Luft. „Ich gehe für eine Weile hinaus.“
„Keinesfalls, solange die Feinde da draußen lauern.“ Eine Hand am Griff der Streitaxt, die an seiner Taille hing, versperrte er ihr den Weg. „Hier drin bist du sicherer.“
„Die Normannen lagern ein paar Meilen entfernt. So weit werde ich nicht gehen. Ich muss einfach … hinaus.“ Die Burg schien Auder wie ein Gefängnis, die Mauern schienen an sie heranzurücken, sie zu erdrücken. Wenn sie sich wenigstens für kurze Zeit frei und unbehindert fühlte, würde sie die Zukunft besser verkraften. Sie ballte die Hände so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. „Begleite mich, wenn du das wünschst, Gunnar, und bewache mich.“
Ungehalten zog er die Brauen zusammen, und sie erwartete, er würde ihren Vorschlag ablehnen. Hätte er Morren nicht sein Wort gegeben, würde er an Clárs Seite das Fest genießen.
Aber als Auder ihre Bitte wiederholte, zuckte er zögernd die Achseln. „Also gut. Für eine kleine Weile. Und wir gehen nur bis zur Flussbiegung.“
Erleichtert atmete sie auf. „Danke.“
Wenig später führte Gunnar sie am Ufer entlang. Nach den heftigen Regenfällen war das Wasser gestiegen. Die meisten Häuser standen höher oben an den Hängen. Dadurch wurden sie vor Überschwemmungen geschützt. Trotzdem bereiteten ihr die rauschenden Wellen und die dunklen Wolken große Sorgen.
Vom Geruch frischen Grüns umgeben, setzte Auder sich ins Gras und ließ die Füße über dem Fluss baumeln. In wenigen Monaten würden Stechginster und Heidekraut auf den Hügeln blühen, in lebhaften Farben leuchten und ihre Düfte verströmen.
Aber ich werde nicht mehr hier sein, nichts davon sehen, dachte Auder traurig. Gunnar stand neben ihr, seine Hand wieder am Griff seiner Streitaxt. Mit zusammengekniffenen Augen spähte er um sich, auf der Suche nach Gefahren. Unbehaglich beobachtete sie ihn, und seine sichtliche Anspannung beunruhigte sie, wenn sie sich auch sagte, sein Verhalten dürfe sie nicht beeinflussen.
In der Pose eines Kriegers schien er alle seine Sinne auf mögliche Bedrohungen einzustimmen. Unablässig schweifte sein Blick umher.
Gunnar umklammerte den Griff seiner Streitaxt noch fester, und seine Stimmung verdüsterte sich ebenso wie das letzte schwache Licht über der Landschaft. Obwohl eine Heirat eine zivilisierte Methode war, Iren und Normannen zu vereinen, misstraute er den Eindringlingen. Und es erzürnte ihn maßlos, dass ihr Anführer Auder O’Reilly für sich gewinnen sollte.
Für die Normannen war sie viel zu gut. Fast jeder Mann in der Burg begehrte die scheue Schönheit. Größer als die meisten Frauen, reichte sie ihm bis zum Kinn. Ihr
Weitere Kostenlose Bücher