HISTORICAL EXCLUSIV Band 14
hilfsbereiten Herrn, der Jennifer noch auf den Armen hatte, aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ohne das Mädchen loszulassen, stürzte er über Bord, fiel ins Wasser und ging sofort unter. Sekunden später tauchte er wieder auf und rief, verzweifelt mit den Armen rudernd: „Hilfe! Hilfe! Ich kann nicht schwimmen!“
Plötzlich konnte Mary die Tochter nirgends mehr sehen, nur die Cappeline, die auf den Wellen auf und ab getrieben wurde. „Nein!“, schrie sie auf und versuchte, den Gurt zu öffnen. Er war jedoch so fest angezogen, dass sie es nicht schaffte. „Nein! Jenny!“ Entsetzt beugte sie sich erst nach rechts, dann nach links. Der Leinensessel schwankte wild hin und her, aber es gelang ihr nicht, sich von dem Gurt zu befreien. Ein Passagier hatte den ins Meer gestürzten Mann zu fassen bekommen, doch von Jenny war nirgendwo etwas zu sehen.
Unvermittelt spritzte Wasser auf, als jemand mit einem großen Satz hineinsprang und wie ein Hai durch die blaue Tiefe glitt. Einen Herzschlag später wurde Jennifer an die Oberfläche gestemmt. Sie würgte und spuckte, und das Wasser rann ihr aus der Nase, doch sie lebte.
Hände wurden ihr aus dem Boot entgegengestreckt, um sie hineinzuheben. Mary rannen die Tränen über die Wangen. Sie war dem Menschen dankbar, der die Geistesgegenwart besessen hatte, ihrer Tochter nachzuspringen und sie wieder an die rettende Luft zu heben, ehe es für sie zu spät gewesen wäre. Und jäh begriff Mary, wer dieser Mann gewesen war, der Jennifer vor dem Tod bewahrt hatte. Sie wusste es, bevor sie zu der Stelle hinunterschaute, an der er aufgetaucht war, und in Hassans nasses, grinsendes Gesicht blickte.
2. KAPITEL
Jennifer schlief, zusammengekrümmt unter dem Laken auf der anderen Seite von Marys Bett. Das feuchte Haar war auf dem Kissen ausgebreitet. Der Schein einer brennenden Öllampe tauchte das Gesicht in weiches, flackerndes Licht.
Einige Zeit vorher waren die Frauen des Emirs auf Zehenspitzen in das Zimmer gekommen und hatten das schlafende Kind betrachtet, flüsternd dessen Schönheit bewundert und vorsichtig die Locken berührt. Nach der Ankunft in Halil ibn Aybaks Haus hatte Mary die drei Gattinnen des Emirs kennengelernt und sie sogleich sympathisch gefunden. Die beeindruckende grauhaarige Halima war schon seit seinen Jünglingstagen bei ihm. Aziza mit den dunklen, traurig blickenden Augen hatte die herrlichen Wandteppiche gewoben, die überall im Haus hingen. Die plumpe, schnell zum Lachen aufgelegte junge Jehani war die Mutter von zwei lebhaften kleinen Buben. Keine der drei Frauen sprach englisch, doch ihre nuancenreiche Gestik und ihr beredtes Mienenspiel machten Worte unnötig. Mary hatte keine Angst, die Tochter in der Obhut dieser Frauen zu lassen, wenn sie sich am nächsten Morgen zum Büro der Eisenbahngesellschaft von Uganda begab.
Ihr Schatten wanderte über die stuckierte Wand, während sie den Raum durchquerte. Es war spät, und sie fühlte sich erschöpft, doch die angespannten Nerven ließen sie nicht zur Ruhe kommen. Jedes Mal, wenn sie nachdenklich stehen blieb, sah sie wieder das Meer vor sich und Jennys auf den Wellen tanzendes Hütchen. Aber sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass der Schrecken ausgestanden war. Sie war lediglich abgespannt und machte sich ihres morgigen Vorhabens wegen Sorgen. Sie brauchte etwas, das sie ablenkte.
Der vor dem Dinner eingetroffene Saratoga stand noch verschlossen mitten im Raum. Sie beschloss, ihn aufzumachen und ihn umzupacken. Vielleicht war sie, wenn sie das erledigt hatte, so entspannt, dass sie einschlafen konnte. Sie suchte den Schlüssel, öffnete das Schloss und klappte den Deckel auf. Stück für Stück nahm sie die hastig eingepackten Sachen heraus. Sie strengte sich an, sich darauf zu konzentrieren, jeden Rock, jede Schoßjacke, die Lingerie und Jupons säuberlich zu falten und auf dem Teppich zu Stapeln zu ordnen. Sie war ganz bei der Sache, bis ihr unvermittelt der Brief einfiel, den Mr. Tarrington-Leigh ihr kurz vor der Abfahrt der „S. S. Horatius“, gegeben hatte.
„Lesen Sie ihn später“, hatte er ihr zugeraunt und sie flüchtig auf die Wange geküsst. „Sie können mir Ihre Antwort nach der Heimkehr mitteilen. Bis Sie wieder hier sind, werde ich ungeduldig die Tage zählen.“
Der Brief war seit fünf Wochen ungeöffnet geblieben. Mary ahnte, was darin stand, und wusste, was sie Mr. Tarrington-Leigh sagen würde. Er war eine ausgezeichnete Partie, einer Lady würdig. Zweiundvierzig Jahre
Weitere Kostenlose Bücher