HISTORICAL EXCLUSIV Band 14
alt, hatte er untadelige Manieren, war distinguiert und tolerierte dank seiner liberalen Einstellung Marys Unabhängigkeitsdenken. Er sah gut aus, und sein Vermögen war so groß, dass er Mary und ihrer Tochter eine gesicherte Zukunft und gesellschaftliche Anerkennung bieten konnte. Er war ein guter Mensch, den sie gern hatte und mit der Zeit vielleicht sogar lieben lernte.
Doch ungeachtet all dieser Vorzüge hatte sie das Schreiben nicht gelesen, weil sie meinte, es sei eine Sache des Anstandes, es noch nicht zur Kenntnis zu nehmen. Daheim hatte sie stets Distanz zu allen Männern gewahrt, auch zu Arthur Tarrington-Leigh, und war in diesem Entschluss nie wankelmütig geworden. Schließlich war sie eine verheiratete Frau und hatte sich fest vorgenommen, das Ansehen der Tochter nie durch einen wie immer gearteten Skandal zu gefährden. Schon die beabsichtigte Scheidung war eine zwar notwendige, aber unangenehme Angelegenheit. Daher hatte sie sich entschieden, das Couvert erst dann aufzumachen und über Mr. Tarrington-Leighs Heiratsantrag nachzudenken, wenn sie nicht mehr an Cameron MacKenna gebunden war.
Sie starrte das Billett an, das ihren Namen in Mr. Tarrington-Leighs eleganter Handschrift trug, verlor unvermittelt das Interesse, den Saratoga auszupacken, und legte den Brief tief unter die verbliebenen Sachen. Dann wandte sie sich ab, ging rastlos im Raum hin und her und fragte sich beklommen, was den plötzlichen Gefühlsaufruhr ausgelöst haben mochte. Mr. Tarrington-Leigh konnte nicht die Ursache sein. Er vereinte in sich alles, was sie sich wünschen konnte, und es bedurfte nur eines Wortes, um ihn zum Gemahl zu bekommen. Sie musste lediglich alle Bande zu einem Taugenichts durchtrennen, der sie nie geliebt hatte, und war dann imstande, sich mit Arthur Tarrington-Leigh zu vermählen.
In Darlmoor war Mary überzeugt gewesen, alle Probleme würden sich sehr einfach lösen lassen, doch nun hatte sie nicht mehr diesen Eindruck. Jäh fühlte sie sich im Raum eingeengt und hatte das unwiderstehliche Bedürfnis, ins Freie zu gehen, frische Luft zu atmen und die Sterne zu betrachten. Sie kehrte zu der Tochter zurück, die fest schlief, strich ihr behutsam eine feuchte Locke aus dem Gesicht und huschte dann leise aus dem Zimmer.
Halil ibn Aybaks Haus war ein Gewirr von weiß getünchten, mit Azizas wundervollen Wandbehänge geschmückten und kostbaren Teppichen ausgelegten Räumlichkeiten, sowie hübschen Innenhöfen, wo schlanke Dattelpalmen, Hibiskus und Bougainvilleen wuchsen. Mary schlenderte zu dem plätschernden Marmorbrunnen, der sich neben einem Orangenbäumchen in der Mitte des abgeschlossenen kleinen Gartens befand, an dem das von ihr bewohnte Gemach lag, tauchte die Hände in das Wasser und kühlte sich Stirn, Wangen und Hals.
Die Nacht war mondlos, und die Sterne blinkten am dunklen Himmel wie glitzerndes Bergkristall. Eine schwache Brise fächelte die Palmblätter, und ein sinnlich erregender Duft lag in der lauen Luft. Mary zog die Haarnadeln aus der Frisur, schüttelte die langen Locken und schloss die Augen. Tief durchatmend, nahm sie das Aroma Afrikas in sich auf, das der Wind, der irgendwo die Mähne eines Löwen zerzaust und den Staub eines Elefantenpfades aufgewirbelt hatte, zu ihr wehte. Es war der unverwechselbare Geruch des Landes, in dem ihr Gemahl lebte.
Den ganzen Tag hatte sie sich gegen die Erinnerungen gewehrt. Doch nun gab sie sich seufzend geschlagen. Sie war zu erschöpft, noch länger dem Drang zu widerstehen, an den Gatten zu denken. Hilflos, wie Reiser von einem Strudel, wurden ihre Gedanken zu jenem fatalen Sommer getrieben, zu einer Zeit, da sie Cameron MacKenna geliebt hatte und die so weit zurückzuliegen schien, dass es ihr wie ein Traum vorkam.
Seit dem frühesten Erwachen körperlicher Regungen hatte sie für Cameron geschwärmt, war indes stets zu jung und nie imstande gewesen, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Jahrelang hatte sie ihn beobachtet und jedes Mädchen beneidet, das alt genug war, um sein Gefallen zu finden. Und dann, mit sechzehn Jahren, war eines Tages die Reihe an ihr gewesen. Natürlich hatte sie die Begegnung mit Cameron nicht geplant gehabt, als sie an jenem warmen Sommerabend vom Haus einer Freundin zurückkehrte und beschloss, die Abkürzung um die Bucht zu nehmen. Sie hatte sich allein gewähnt, bis plötzlich von unterhalb des vorspringenden Gesteins, das die Bucht der Sicht vom Weg entzog, das Geräusch aufspritzenden Wassers zu ihr
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