HISTORICAL EXCLUSIV Band 17
lachend und hüpfend die Straße entlangkamen, direkt unter ihrem Fenster vorbei.
Als sie herausfand, dass Eudora Cahill ihre Schule jetzt führte, war das für sie wie ein Peitschenhieb gewesen. Sie hatte sich zu überzeugen versucht, dass das das Beste wäre, weil die Kinder immerhin weiterlernten. Aber Eudora als Lehrerin! Das war mehr, als sich ertragen ließ. Wenn ihre ehemaligen Schüler nach dem Unterricht die Straße heraufkamen und die vertrauten Stimmen durch die Samtvorhänge zu ihr heraufklangen, tat Sarah das Herz weh.
Sie brauchte unbedingt etwas Zerstreuung. Zum ersten Mal fiel ihr Blick auf den Schrank, der die Kleidung der armen Marie beinhaltete. Wenn ich darin herumstöbere, vertreibt mir das die Zeit, dachte sie. Vielleicht denke ich dann nicht mehr an meine Schüler. Und an Donovan.
Wie sich beim Bewegen der Griffe herausstellte, waren die geschnitzten Türen des Schrankes abgeschlossen. Aber eine kurze Suche in der Kommode brachte den Schlüssel zutage. Sarah fühlte sich geradezu erfrischt, als sie voll prickelnder Neugier aufschloss. Maries schlanke Figur hatte ihrer eigenen ungefähr entsprochen. Wenn sich ihre Kleidung noch im Schrank befand, könnte sie ihre einsamen Theatervorführungen mit dem einen oder anderen Kostüm bereichern.
Die Türen klemmten erst, gingen dann aber auf, und der typische Parfümgeruch von Marie hing plötzlich im Raum. Flieder und Gardenien. Sarah wurde die Kehle eng, weil der Geruch eine Flut bittersüßer Erinnerungen mitbrachte. Tränen stiegen ihr in die Augen, und im ersten Moment beschloss sie, die Türen wieder zu schließen und die Finger davon zu lassen. Marie lebt nicht mehr, erinnerte sie sich. Die Kleidungsstücke haben keine Besitzerin mehr. Außerdem will ich nichts wegnehmen. Ich möchte nur etwas ausleihen.
Sie nahm allen Mut zusammen und schob die wattierten Bügel über die Schiene, wobei sie ein Kleid nach dem anderen betrachtete. Sie alle waren in überraschend gutem Zustand. Einige waren teuer gewesen, sogar verschwenderisch, dazu passend gab es die Schuhe. Sie steckten in mit feinem Stoff ausgelegten Kästen an der Rückwand des Schrankes. Marie war ein hübsches Mädchen gewesen, bevor sie erkrankte. Es war augenscheinlich, dass mindestens einer ihrer Bewunderer reich und großzügig gewesen war. Auf dem oberen Bord des Schrankes fand Sarah eine unverschlossene Schmuckkiste. Sie enthielt aber nur protzige Kinkerlitzchen. Wenn Marie wertvolle Stücke besessen hatte, waren sie offensichtlich verpfändet oder verkauft … oder die Kiste war geplündert worden.
Sarah fühlte sich wie ein Eindringling und legte die mit Samt bezogene Schachtel schuldbewusst an ihren Platz zurück. Auf jeden Fall interessierte sie sich mehr für die Kleidungsstücke – und die Schuhe. Es sah so aus, als würden sie ihr passen.
Bevor sie es recht begriff, hatte sie schon Kleider aus dem Schrank herausgenommen und auf ihr Bett gelegt. Jetzt sahen sie noch eleganter aus, als sie gedacht hatte. Selbst als Lydia Taggert hatte sie nicht so verschwenderische Stücke besessen.
Am besten gefiel ihr ein smaragdgrünes Kleid aus Seide, verziert mit passenden Samtbändern, die auf der Rückseite des Rockes zusammenliefen. Als Sarah sich das Kleid vor dem Spiegel vorhielt, entdeckte sie, dass seine Farbe die silbrige Farbe ihrer Augen betonte und ihrem bleichen, schmalen Gesicht Glanz verlieh.
Eigentlich hatte sie gar nicht beabsichtigt, etwas anzuprobieren. Aber schon war sie dabei, die Schubladen schamlos nach passender Unterwäsche und Strümpfen zu durchwühlen. Sie fand alles – sauber und in guter Verfassung. Es war feine Batistwäsche, sie schmeichelte pfirsichweich der Haut.
Als sie das Korsett anlegte, merkte Sarah erst, wie viel Gewicht sie verloren haben musste. Ihre Taille war immer schon schmal gewesen, jetzt konnte man sie mit den Händen umfassen.
Jetzt kam das Kleid dran. Mit angehaltenem Atem hob sie den Stoff über den Kopf. Als sie sich das Kleid am Rücken zu schließen versuchte, merkte sie, wie ihre Hände zitterten. Irgendetwas störte sie.
Vollständig bekleidet, trat sie vor den Spiegel, der an der Innenseite des Schrankes hing und sie in voller Größe zeigte.
Sarah hatte viele Rollen in ihrer Zeit als Schauspielerin gespielt und mehr als eine im wirklichen Leben. Sie verstand es, die Frisur zu ändern, die Kleidung, ihr Make-up, die Stimme und Gesten, um sich den jeweiligen Erfordernissen anzupassen.
Aber der Spiegel warf das Bild
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