HISTORICAL EXCLUSIV Band 21
selbst nichts besitzen, ist er so reich wie … wie …“
„Wie Krösus?“, schlug Lilly vor.
„Wie wer?“, fragte Mrs. Garvey. „Ich wollte eigentlich Leland Stanford oder Collis Huntington sagen, aber ich bin mir nicht einmal sicher, ob er nicht doch mehr besitzt als die beiden.“
„Miss Abbot hat also wegen des Geldes und nicht aus Liebe geheiratet“, fasste Lilly zusammen. Es enttäuschte sie etwas, dass Deegans Angebetete nicht ihrem Herzen, sondern dem schnöden Mammon Gold gefolgt war.
„Das tun kluge Frauen nun einmal“, verkündete Mrs. Garvey selbstgefällig. Da sie von der Stellung einer Haushälterin zur Gattin eines gut situierten Witwers aufgestiegen war, zählte sie sich vermutlich auch zu diesem Kreis.
Lilly glaubte einfach nicht daran, dass man das Glück in einem gefüllten Geldbeutel finden konnte. Natürlich war es sehr angenehm, Geld zu besitzen. Sie hatte in Barbary Coast gesehen, was es hieß, arm zu sein. Deshalb war sie besonders dankbar dafür, dass ihnen das bescheidene Einkommen ihres Vaters einen recht angenehmen Lebensstil erlaubte. Manchmal musste sie zwar sparen und jeden Cent zwei Mal umdrehen, doch das geschah nicht häufig und betraf niemals lebensnotwendige Dinge.
Mit solchen Überlegungen hatte sich Winona Abbot wahrscheinlich niemals den Kopf zerbrechen müssen. Sie gehörte der Oberschicht an. Auch wenn Deegan ebenfalls wohlhabend zu sein schien, war sein Vermögen vermutlich unbedeutend gering, verglichen mit dem des Aristokraten, den Winona schließlich geheiratet hatte.
Mrs. Garvey aß die Makrone auf und lehnte sich selbstzufrieden auf ihrem Stuhl zurück. „Nun habe ich Sie also vor diesem Mann gewarnt“, sagte sie. „Ich stimme zwar ganz mit Ihrer Mutter überein, dass Sie sich eine solche Gelegenheit wie die Einladung bei den Abbots nicht entgehen lassen sollten. Doch möchte ich Sie dringend davor warnen, einen Mann wie Mr. Galloway zu ermutigen.“
Lilly fragte sich, wie eine solche Ermutigung aussehen mochte. Gehörte bereits ihre Freude dazu, ihn sehen zu dürfen? Sie tat mehr, als sich nur über Deegans Gegenwart zu freuen, sie genoss jeden Augenblick davon. War Ermutigung eine eindeutigere Angelegenheit? Dass sie ihm zum Beispiel erlaubte, ihre Hand zu halten oder den Arm um ihre Taille zu legen? In diesem Fall war sie sowieso schon viel zu weit gegangen, denn sie hatte ihm sogar gestattet, sie zu küssen. Heute hatte sie es geradezu bedauert, dass sie in einem offenen Einspänner gesessen hatten, da dort kein heimlicher Kuss möglich gewesen war.
War es Einbildung gewesen, oder hatte sie in seinen Augen auch so etwas wie Enttäuschung gelesen?
„Wie liebenswürdig von Ihnen, sich um mich Sorgen zu machen“, sagte sie. „Doch da ich weder unvorstellbar reich noch atemberaubend schön bin, bezweifle ich, dass Mr. Galloway die Absicht hegt, mir den Hof zu machen.“
„Eine Frau kann niemals vorsichtig genug sein, wenn es um Draufgänger geht“, meinte die Nachbarin. „Sie mögen weder unglaublich schön noch reich sein …“
Lilly seufzte. Wieso besaß diese Frau nicht wenigstens genug Taktgefühl, ihr nicht zuzustimmen?
„… doch einem hemmungslosen Mann ist dergleichen egal, solange er nur seine Lust zufriedenstellen kann. Sie sind ein unschuldiges junges Mädchen …“
„Man kann mich kaum mehr als jung bezeichnen, Mrs. Garvey. Ich bin schon …“
Die Nachbarin unterbrach sie voll des Eifers. „Sie sind ein junges Mädchen“, wiederholte sie. „Wenn es Ihrer Mutter besser gehen würde und sie ihre Tochter so bewachen könnte, wie sie das tun sollte, wäre ich niemals auf den Gedanken gekommen, ihren Platz einzunehmen.“
Das bezweifelte Lilly. Wenn es darum ging, anrüchige Details über jemanden zu verbreiten, übernahm Mrs. Garvey gern die Rolle der Marktschreierin. Sie lächelte fröhlich, und es schien ganz so, als ob sie nun bester Laune wäre, nachdem sie Deegans traurige Geschichte verbreitet hatte. „Jetzt erzählen Sie mir aber einmal, was Sie zu der Soiree tragen werden, Miss Renfrew.“
Da sich Mrs. Garveys Besuch doch länger auszudehnen schien, stand Lilly auf und stellte einen Wasserkessel auf den Herd.
10. KAPITEL
Deegan stand vor dem Rasierspiegel und schnitt sich noch den letzten Rest seiner Koteletten ab. Was sollte mit seinem Schnurrbart geschehen? Würde Severn ihn als den Iren vom Tag zuvor wiedererkennen? Würde er sich anstelle des Verbrechers an einen Herumtreiber entsinnen, den er nur einmal
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