HISTORICAL EXCLUSIV Band 21
der Villa der Abbots hell erleuchtet. Lilly, die ihren Wintermantel trug und sich einen Schal um den Kopf gewickelt hatte, stand zögernd auf der Straße. Obgleich Deegan bereits wieder bei Kräften gewesen war, als Edmund sie gezwungen hatte, nach Hause zurückzukehren, nahm sie nicht an, dass Marianne Abbot ihn hatte weggehen lassen. Er musste sich noch immer in Nob Hill befinden.
Und wenn nicht? Die Abbots wussten bestimmt, wo er wohnte. Er war nicht nur ein Bekannter der Familie, sondern schien ein besonders guter Freund zu sein.
Das war auch nicht verwunderlich. Obgleich er nicht reich genug war, um die gierige Winona zufriedenzustellen, war er doch in sie verliebt gewesen. Wer würde einen Mann einfach nur deshalb ablehnen, weil die Tochter oder die Schwester einen anderen Gatten ausgewählt hatte? Pierce Abbot jedenfalls schien Deegan zu seinen engeren Vertrauten zu zählen, und auch Marianne hatte sich geradezu mütterlich ihm gegenüber verhalten. Deegan hatte großes Glück mit seinen Freunden – auch deshalb, weil sie sowohl jemanden wie Hannah McMillan aus Barbary Coast als auch die wohlhabenden Abbots von Nob Hill mit einschlossen.
Alle schienen ihm ausgesprochen wohlgesinnt zu sein und ihn zu mögen.
Auch Lilly wünschte sich, er würde ihr gestatten, ihre wahre Zuneigung für ihn auszudrücken, anstatt sie ständig von sich zu schieben. Das tat er schließlich, wenn er ihr immer wieder sagte, dass er ein Halunke sei. Zweifelsohne war er ein geschickter Taktiker. Sie hatte miterlebt, wie leicht er in verschiedene Rollen schlüpfte oder geschickt und blitzschnell eine Pistole wie aus dem Nichts hervorzauberte. Und er hatte einen Mann vor ihren Augen getötet, ohne auch nur die geringste Reue zu zeigen.
Deegan bekannte, ein Lügner zu sein, doch sie glaubte nicht, dass er ihr jemals etwas vorgeschwindelt hatte. Natürlich konnte sie nicht sicher sein. Ihr Gefühl aber sagte ihr, dass er ihr gegenüber ehrlich war. Warum sollte er sich auch die Mühe machen, sie zu belügen? Es gab nichts, wofür es sich lohnte, eine Geschichte zu erfinden.
Er war stets an ihrer Seite gewesen, wenn sie ihn gebraucht hatte. Das war mehr, als sie von jemand sonst behaupten konnte – einschließlich ihrer Familie. Obwohl sie Edmund und Vinia ihr ganzes Leben lang kannte, hatte sie erst in den letzten Tagen erkannt, wer die beiden wirklich waren. Erst jetzt sah sie, dass sie nicht den Mann und die Frau darstellten, für die sie die beiden stets gehalten hatte. Doch mit Deegan hatte Lilly eine sofortige Vertraulichkeit verbunden. Tief in ihrem Herzen wusste sie, dass sie zueinandergehörten. Ohne ihn würde sie niemals ein Ganzes bilden.
Falls Deegan ebenfalls ihr gemeinsames Schicksal erkannt hatte, so schien er doch keinesfalls gewillt zu sein, sich ihm zu beugen. Er fühlte sich von ihr angezogen, war indes nicht daran interessiert, sein Leben mit ihr zu teilen. Er war ein Mann, der Geheimnisse und Abenteuer suchte – warum würde er sonst so gern verkleidet auftreten und mit unterschiedlichen Akzenten sprechen? Deegan war ein Schauspieler, der nicht auf der Bühne stand, sondern sein Publikum beim gemeinen Volk auf der Straße suchte. Ein Mann mit vielen Rollen – und dennoch wusste Lilly, dass er niemals eine Rolle spielte, wenn er mit ihr zusammen war. Sie hatte den Mann, der er im Innersten war, getroffen und kennenlernen dürfen. Ein freundlicher, umsichtiger, beschützender und wundervoll leidenschaftlicher Mann. An diesen Deegan Galloway hatte sie so rasch ihr Herz verloren.
Die Nacht war kalt und viel dunkler, als sie vermutet hätte. Oder vielleicht erschien sie ihr nur so, weil die Lichter der Villa Abbot so hell leuchteten. Lilly atmete tief durch und ging entschlossen zur Eingangstür, um dort den Türklopfer zu betätigen.
Einen Moment später wurde geöffnet. Diesmal war es jedoch nicht das Hausmädchen, das Lilly zu sehen erwartet hatte.
„Miss Renfrew!“, rief Pierce Abbot aus. Er trug einen makellosen Abendanzug und ein gestärktes Hemd. Sein schimmernder Zylinder saß ihm ein wenig schräg auf dem Kopf, und er hatte sich einen dunklen Mantel über den Arm geworfen. In der Hand hielt er einen Spazierstock mit einem goldenen Knauf. „Was tun Sie denn hier um diese Zeit? Hat man wieder versucht, Sie zu entführen?“ Er blickte hinter sie auf die stille, leer daliegende Straße. „Niemand hinter Ihnen her?“
„Nein, ich glaube nicht, dass jemand mir gefolgt ist“, erwiderte
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