HISTORICAL EXCLUSIV Band 22
zu folgen. Die alte Amme wünschte sich nichts sehnlicher als ein besseres Leben für ihren jungen Schützling.
Kathryn hatte schon seit Jahren in keinen Spiegel mehr geschaut, war aber überzeugt davon, dass sie kein hübsches Gesicht besaß. Edith und ihre Töchter machten keinen Hehl daraus, was sie von all den Schönheitsfehlern der armen Kathryn hielten, angefangen von dem Grübchen im „zu breiten“ Kinn bis hin zu ihrem Haar, das „farblos“ war „wie das Heu auf den Feldern“ und schier nicht zu bändigen. Die anderen Familienmitglieder überragten Kathryn um Haupteslänge und gaben sich keine Mühe zu verbergen, dass sie Kathryns zierliche Statur als Makel empfanden. Ihre Augen waren zu grün, und ihre Haut war zu bleich. Dank ihrer Stiefmutter und den Stiefschwestern wusste sie, dass nichts an ihr so war, wie es sein sollte. Kein Wunder also, dass Rupert noch nicht um sie gefreit hatte. Aber er wird bald kommen, versuchte sie sich selbst Mut zu machen. Ganz bestimmt.
So unscheinbar sie auch war, die Bediensteten mochten sie und führten ihre Anordnungen gerne aus. Mit den Jahren gewöhnte Kathryn sich daran, den Haushalt zu leiten, da ihre Stiefmutter mit anderen Dingen beschäftigt war. Sie hatte ein gutes Erinnerungsvermögen und ein noch besseres Gedächtnis für Zahlen, was ihr die Führung der Rechnungsbücher ihres Stiefvaters sehr erleichterte. Nachdem der Kämmerer des Barons vor drei Jahren gestorben war, hatte Kathryn es übernommen, die Einnahmen aus dem Grundbesitz zu verwalten und die Arbeit der Bauern zu überwachen. Deshalb erachtete Baron Somers es nicht mehr für nötig, einen neuen Verwalter einzustellen, und Kathryn erkannte, dass es von Vorteil sein konnte, nützlich zu sein. Seitdem bemühte sie sich, für Somers unersetzlich zu werden.
Sie hoffte, er würde sie nicht während einer seiner trunkenen Wutanfälle töten, wenn er sie nur dringend genug brauchte.
Mithilfe eines Mönchs, der regelmäßig nach Somerton kam, um dort für das Kloster Güter und Lebensmittel zu tauschen, eignete Kathryn sich ein erstaunliches Wissen im Bereich der Wissenschaft und der Pflanzenheilkunde an. Sie schaffte es sogar, neben ihrer geliebten Rosenlaube einen Garten mit Heilkräutern anzulegen. Oft begleitete sie Bruder Theodore bei seinen Heilertätigkeiten zu den Leibeigenen und Dorfbewohnern von Somerton und entwickelte beträchtliche Fähigkeiten in den Heilkünsten.
Die anderen Lieblingsbeschäftigungen ihres Schützlings waren der alten Bridget allerdings ein Dorn im Auge. So liebte Kathryn es, wie ein Mann rittlings auf einem Ross zu reiten. Es gab für sie nichts Schöneres, als auf einem Pferderücken über die Wiesen zu sprengen und den Wind auf dem Gesicht und in ihrem Haar zu spüren. Auch bereitete es ihr Vergnügen, sich mit ihrer Schleuder oder mit Pfeil und Bogen mit den Jägern in Baron Somers’ Wäldern zu messen. Bridget missfiel es aufs Äußerste, wenn Kathryn auf die Waldbäume kletterte und sich hoch über dem See auf einen starken Ast legte, um die Wolken zu betrachten, die sich auf der Wasseroberfläche spiegelten.
Wolf vermutete, dass sie eingeschlafen war. Sie lehnte jedenfalls zurückgesunken an seiner Brust, und er musste sie schon seit einigen Meilen stützen, um zu verhindern, dass sie von Janus’ Rücken hinabglitt. Er überlegte, wie alt sie wohl sein mochte. Sechzehn vielleicht? Diese verfluchten Lumpen, die sie trug, machten es ihm unmöglich, festzustellen, ob ihr Körper der eines Kindes oder der einer Frau war. Gewiss schon alt genug, um verheiratet zu werden, doch warum hatte sie dann noch keinen Mann? Ihr Leben mit Baron Somers und seiner Familie war offensichtlich für sie nicht ganz einfach, dennoch harrte sie in Somerton bei ihren Stiefeltern aus.
Das musste an ihrem Mangel an weiblichen Reizen liegen. Ihre Art, sich zu kleiden, war jedenfalls recht abstoßend für eine junge Frau. Er hatte bestimmt noch nie eine Dame gesehen, die sich mit solch grobwollenen Beinkleidern und ebensolcher Tunika gewandete. Während er Kathryn betrachtete, überlegte er, ob ihre herausfordernde Art Baron Somers veranlasst hatte, sie zu schlagen, oder ob es dem Mann ein verderbtes Vergnügen bereitete, seine Stieftochter zu misshandeln. Wolf entschied sich dafür, im Zweifel eher Lord Somers und seinem aufbrausenden Temperament die Schuld zu geben. Er hielt nicht viel von betrunkenen Männern, die Frauen und Kinder schlugen; und er konnte nicht leugnen, dass er eine
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