HISTORICAL EXCLUSIV Band 22
konnte er Veronica erklären, was in ihm vorging, wenn er es selbst nicht begriff? „Es machte mir Angst, als ich sie nach all den Jahren wiedersah. Ich fürchtete, dass mich meine Gefühle für Alayna schwach machen könnten. Wenn Ihr Euch nach meinem Vater erkundigt habt, wisst Ihr, dass er meiner Mutter blind ergeben war. Ich glaube, auf ihn bin ich ebenso wütend gewesen wie auf sie. Ich schwor, dass mir niemals so etwas passieren würde.“
„Aber Alayna würde Euch niemals verletzen“, sagte sie sanft.
Er nickte. „Ich weiß. Ja, ich weiß es. Und ich habe nun begriffen, dass es nicht von Schwäche zeugt, zu lieben. Allein die Angst vor der Liebe war es, die mich schwach machte.“
Lady Veronica kniete ebenfalls nieder und streichelte besänftigend seine Wange. Sie lächelte, und ihre Augen glitzerten vor unvergossenen Tränen. Liebevoll zog sie ihn in ihre tröstende Umarmung und hielt ihn fest wie eine Mutter, die den Schmerz ihres Kindes lindern will. Es spielte keine Rolle, dass er ein erwachsener Mann war. Nur noch die Qualen seiner Seele zählten und die Wunden, die nur er selbst heilen konnte.
„Ihr müsst es ihr erklären, Lucien. Ihr müsst zu ihr gehen und ihr gestehen, was Ihr in Eurem Herzen für sie fühlt. Ich fürchte, dass ich sie allzu sehr gedrängt habe, mit mir nach London zurückzugehen und ihre Vermählung mit Euch zu vergessen. Vergesst nicht, dass ich nur an ihr Wohlergehen dachte. Ich wollte nicht, dass sie ein unglückliches Leben führt. Nach den heutigen Ereignissen wird sie sicher zu dem Entschluss gekommen sein, meinem Rat zu folgen. Verschwendet keine Zeit, denn Ihr habt sie zweifellos sehr verletzt. Ihr müsst sie um Verzeihung bitten und ihr sagen, dass Ihr sie liebt.“
Gemeinsam standen sie auf, und nach höfischer Manier der Normannen hob Lucien ihre Hand an seine Lippen, um sie zu küssen. Er hatte Angst. Angst, dass Alayna ihn zurückweisen würde. Immerhin hatte er ihr das Leben zur Hölle gemacht, und vielleicht hatte sie sich tatsächlich dazu entschlossen, ihn zu verlassen. Was, wenn er zu weit gegangen war, wenn er durch seine grausamen Worte ihre Liebe für immer verloren hatte? Er würde es nicht ertragen können, doch in diesem Fall würde es ihm recht geschehen.
Als er wieder in Lady Veronicas Augen sah, nickte ihm die ältere Frau ermutigend zu. „Alles wird gut werden“, versicherte sie ihm.
„Ich danke Euch“, flüsterte er.
Als Alayna das Bewusstsein wiedererlangte und ihre Lider öffnete, starrte sie geradewegs in ein braunes Augenpaar, das nur eine Handbreit von ihr entfernt war. Während sie langsam zu sich kam, betrachtete sie die kleine Stupsnase, die üppigen Lippen und das dunkle Haar der Frau, die vor ihr stand. Auf einmal erkannte sie das Mädchen. Es war Glenna!
Eilig versuchte sie, sich aufzusetzen, und musste erkennen, dass sie gefesselt war. Glenna lachte boshaft.
Alayna sah sich um und stellte fest, dass sie auf einem Strohsack lag. Sie befand sich in einer kleinen Behausung mit lehmbedeckten Wänden und schmutzigem Boden. Über ihr war das gewölbte strohgedeckte Dach der Hütte zu sehen.
Glenna bleckte ihre Zähne, was vermutlich den Versuch eines Lächelns darstellen sollte. Langsam hob sie ihre Hand unter Alaynas Nase und zeigte ihr eine kleine Menge weißen Pulvers, das auf ihrer Handfläche lag. Alayna starrte es misstrauisch an, während Todesangst sie erfüllte. War es ein Gift?
Unvermittelt pustete Glenna in ihre Hand, wodurch das Pulver in Alaynas Gesicht flog. Da sie erschrocken nach Luft schnappte, atmete sie den feinen Staub gegen ihren Willen ein. Sogleich spürte sie die betäubende Wirkung der Droge, während eine sonderbare Trägheit Besitz von ihren Gliedern ergriff. Wie aus weiter Ferne hörte sie Glennas hämisches Lachen. Das Mädchen sprach nur ein einziges Wort. „Schlaft.“
Danach hörte Alayna nichts mehr.
Nachdem Lucien seine Gemahlin im ganzen Schloss nicht gefunden hatte, wurde seine Alarmbereitschaft geweckt. Ob Alayna etwas zugestoßen war?
Er fragte sich, ob sie möglicherweise noch einmal davongelaufen war, doch er verwarf die Idee schnell wieder. Warum sollte sie auch fliehen, wenn sie nur mit ihrer Mutter sprechen musste und ihm für immer entkommen konnte? Nein, solch ein Verhalten sah Alayna gar nicht ähnlich.
Sie war äußerst aufgebracht gewesen, als er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Allein sein verdammter Stolz war daran schuld. Er hielt es für höchst wahrscheinlich, dass sie
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