HISTORICAL EXCLUSIV Band 23
habe Euch doch gestern Abend gesagt, Ihr sollt Euch zugleich mit der Königin zurückziehen“, sagte Bess. „Warum um alles in der Welt musstet Ihr aufbleiben und Karten spielen?“
„Ich hatte eben Lust dazu“, log Seraphina ohne Scheu. In Wirklichkeit war sie müde bis auf die Knochen gewesen, aber der Earl hatte sie und Grace zum Kartenspielen aufgefordert, und sie hatte ihn nicht um die Welt mit Grace allein lassen wollen. Es war allerdings ziemlich zwecklos, dachte sie trübsinnig. Gemessen an der Aufmerksamkeit, die der Earl ihr gewidmet hatte, hätte sie ebenso gut auch unsichtbar sein können.
Bess brummte missbilligend. „Nur weil die Königin so lebt, als wäre jeder Augenblick ihr letzter, müsst Ihr noch lange nicht dasselbe tun. Ich wette, Ihr seid in der letzten Woche wieder mächtig vom Fleische gefallen. Sie wird nach den zwölf Nächten der Weihnachtszeit keinen Höfling mehr haben, wenn sie so weitermacht!“
„Nachdem sie den größten Teil ihrer Jugend immer im Schatten des Richtschwertes gestanden hat, kann man ihr wohl kaum vorwerfen, dass sie so begierig auf Vergnügungen ist“, sagte Seraphina, schnitt ihrem Spiegelbild eine Grimasse und gestand sich selbst dabei ein, dass Bess recht hatte. Ihr Gesicht bestand nur noch aus Augen und Mund, und was das Übrige von ihr anbetraf … sie seufzte und wünschte sich, von der Natur so ausgestattet zu sein wie Grace. Dann würde der Blick des Earls vielleicht ihr und nicht Grace folgen, und möglicherweise würde er sie sogar so ansehen wie damals, als sie sich in Mayfield zum ersten Male begegneten.
„So ist es besser“, murmelte Bess zufrieden, als sie den Rock um Seraphinas schmale Taille zurechtzupfte und mit Nadeln befestigte. „Diese Farbe steht Euch wunderbar.“
Seraphina richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihr Spiegelbild. Da das Material so kostbar war, hatte sie sich für einen ganz einfachen Schnitt des Gewandes entschieden: ein rechteckiger, nicht sehr tiefer Halsausschnitt, das Mieder in eine Spitze auslaufend, von der aus sich der Überrock teilte und das zimmetfarbene Seidenunterkleid sehen ließ. Nur die Ärmel waren kunstvoll gearbeitet. Der äußere Ärmel, mit Seide ausgeschlagen und mit Pelz verbrämt, fiel wie ein Flügel bis auf den Kleidersaum hinab. Der untere Ärmel aus Samt war geschlitzt. Bess hatte recht. Die Herbstfarben des Gewandes kleideten sie ausgezeichnet. Vorsichtig strich sie über den rotbraunen Samt und erinnerte sich plötzlich ihrer ersten Begegnung mit dem Earl in den Wäldern von Mayfield. Ob er wohl auch daran gedacht hatte, als er diese Stoffe für sie ausgesucht und ihr zum Geschenk gemacht hatte? Aber nein, sie war eine Närrin, es auch nur im Entferntesten in Betracht zu ziehen.
„Allein die Seide muss ja ein Vermögen gekostet haben. Der Earl ist wirklich sehr großzügig“, sagte Bess anerkennend, während sie eine Falte im Rock glattstrich und dann einen Schritt zurücktrat, um ihr Kunstwerk zu bewundern.
„Oder er hat ein sehr schlechtes Gewissen.“ Seraphina verzog den Mund. „Glaubt er wirklich, dass er mich mit dieser Fülle von Geschenken darüber hinwegtrösten kann, dass er nur Augen für Mistress Morrison hat, wann immer sie auftaucht!“
„Ich bin sicher, dass er ihr nicht den Vorzug vor Euch gibt“, beteuerte Bess mit nachdenklich gerunzelter Stirn. „Er hat doch in den letzten Tagen wie eine Klette an Euch gehangen.“
„Ja …“, erwiderte Seraphina gedehnt. „Aber er hat immer darauf geachtet, dass er nicht mit mir allein war, und mich nie auch nur berührt. Und außerdem behandelt er mich immer wie ein Kind. Er schreibt mir sogar vor, mit wem ich sprechen darf und mit wem nicht. Gestern Abend habe ich mit Sir John Malgreave eine Pavanne getanzt, und er führte sich danach auf, als hätte ich mich mit dem Gottseibeiuns persönlich eingelassen. Und dabei gibt es nichts Harmloseres als Sir John.“
„Er achtet einfach nur auf Euern Ruf. Macht Euch nicht so viele Gedanken. Bald werdet Ihr seine Gemahlin sein.“
„Seine Gemahlin! Was für eine tröstliche Aussicht, wenn er mich niemals anfasst, außer wenn es die Etikette erfordert! Lieber würde ich seine Geliebte sein, damit …“ Seraphina verbiss sich das unschickliche Geständnis, dass sie sich schrecklich danach sehnte, in seinen Armen zu liegen, vom ihm geküsst und so zärtlich berührt zu werden wie damals in Mayfield. Bess sah schon entsetzt genug aus. „… damit mir seine Blicke durch den
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