Historical Exklusiv Band 06
dem sie sich versteckt hatte, und den Kapitän von ihrer Anwesenheit in Kenntnis zu setzen.
Sie hatte es gewiss nicht tun wollen, bevor Macao weit genug hinter ihnen lag. Sie hatte warten wollen, bis sie zu weit draußen waren, als dass Straithe noch umdrehen könnte – oder sie über Bord werfen, damit sie zurückschwamm ans Ufer, was sie für wesentlich wahrscheinlicher hielt.
Und sie besaß zu viel gesunden Menschenverstand, um eine Störung verursachen zu wollen während der nervenaufreibenden Fahrt zwischen den Kriegsschiffen hindurch, die am Eingang zur Bucht patrouillierten. Selbst in ihrer unbequemen Hockstellung auf einem Stapel kratziger Taue in einem dunklen Schrank aus hatte Sarah die Spannung gespürt, die das ganze Schiff gepackt hielt, als der Kapitän befahl, alle Lichter zu löschen und absolute Ruhe zu halten.
Es schienen Stunden zu vergehen, während sie sich auf die Taue kauerte, die Nerven zum Zerreißen gespannt, und nur das Knarren der Planken und das Rattern der Segel die Stille der Nacht zerriss. Sarah wusste, dass die schwer bewaffneten Fregatten Befehl hatten, auf jeden Schmuggler zu feuern, der versuchte, zur Küste hinauf zu entkommen. Nur mit solchen drakonischen Maßnahmen konnte England hoffen, den festen Griff, mit dem die East India Company den Handel mit China umklammert hielt, aufrecht zu halten, und ganz nebenbei noch die Durchsetzung des kaiserlichen Erlasses zu unterstützen, nach dem alle Fremden einzig und allein in Kanton Handel treiben durften.
Als die Phoenix endlich die offene See erreicht und der Kapitän befohlen hatte, volle Segel zu setzen, um den steifen Südwestwind zu nutzen, war sie so erschöpft, dass sie nicht mehr den Mut aufbrachte, ihr Versteck zu verlassen. Stattdessen zog sie die Beine unter ihren Körper und faltete die weite wattierte Jacke, die sie über der blauen Baumwollhose und dem Kleid getragen hatte, zu einem Kissen zusammen. Eingeschläfert vom Klatschen der Wellen gegen den Schiffsrumpf und den regelmäßigen Schaukelbewegungen des Schoners, fiel sie schon bald in einen tiefen, erschöpften Schlaf.
Bei Tagesanbruch schaukelte das Schiff heftig, und Sarah wurde zur Seite geschleudert. Sie schlug sich den Kopf an der Schrankwand an und erwachte mit der Erkenntnis, dass die Monsunwinde die Phoenix fest im Griff haben mussten. Sie versuchte gerade, sich in dem engen Raum wieder aufzurichten, als das Schiff ein zweites Mal in ein Wellental tauchte.
Taue fielen von den Haken und landeten auf Sarahs Kopf und ihren Schultern. Die Holzwände um sie herum knarrten. Ohne Vorwarnung sprang die Luke auf, und Sarah purzelte heraus.
Sofort fühlte sie warmen Regen auf ihrem Körper. Wellen überspülten das Deck, das sich in scharfem Winkel schräg unter ihren Füßen befand. Sie fand keinen Halt und rutschte hilflos über die glatten Planken, bis sie hart gegen eine offen stehende Lukentür stieß. Sie suchte nach einer Möglichkeit, sich dort festzuklammern, und warf den Kopf zurück, damit ihr das Haar aus dem Gesicht glitt.
Das Erste, worauf ihr Blick fiel, war ein Seemann, der sich an den Flaggenmast klammerte und sie vor Staunen mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Das Zweite war eine grünlich schimmernde, steil aufragende Wand, die sich plötzlich direkt hinter ihm über die Reling erhob. Sie öffnete den Mund, um einen Warnschrei auszustoßen, doch der Schrei kam nie über ihre Lippen.
Jemand umfasste ihre Taille und raubte ihr so den Atem. Sie wurde hochgehoben und wie ein Sack Bohnen von der trügerischen Sicherheit der Lukentür, an der sie Halt gesucht hatte, fortgeschafft. Einen Sekundenbruchteil, ehe die grüne Wand auf die Phoenix niederkrachte, öffnete ihr Retter eine Tür und warf Sarah eine enge Treppe hinunter. Sie landete schmerzhaft auf Hüfte und Ellbogen in einem engen Gang.
Die Gestalt hinter ihr stemmte eine Schulter gegen die Tür, um sie gegen die alles zerschmetternde Kraft des Wassers geschlossen zu halten. Als der Andrang nachließ, wischte der Mann sich das tropfnasse rote Haar aus den Augen und schrie ihr über die Schulter hinweg einen Befehl zu.
"Bleiben Sie unter Deck! Der Kapitän wird zu Ihnen kommen, sobald der Sturm nachgelassen hat."
Mit diesen Worten stürzte er wieder nach draußen. Die Tür schlug hinter ihm zu. Ein paar herrliche Sekunden lang lag das Schiff ganz ruhig da. Doch die Stille war nicht von Dauer, und sogleich begann der wilde Ritt der Phoenix von neuem.
Sarah wusste, dass die täglichen
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