Historical Exklusiv Band 06
Hühnchen war, entschuldigte sie sich, zog sich zurück und sank erschöpft in die seidenbezogene Koje.
Am zweiten Morgen an Bord der Phoenix nahm Sarah all ihren Mut zusammen und ging an Deck. Sie trat aus der Luke, und strahlender Sonnenschein spiegelte sich auf der Wasseroberfläche. Es dauerte ein Weilchen, ehe die viel beschäftigten Mitglieder der Mannschaft sie bemerkten. Dann allerdings sah sie sich allgemeinem Murren und feindseligen Blicken ausgesetzt.
Straithe befand sich mittschiffs, als er die Unruhe bemerkte und sich umdrehte. Er warf Sarah einen raschen Blick zu, dann sprach er kurz mit dem Mann an seiner Seite. Der Matrose nahm daraufhin seinen Hut ab und reichte ihn dem Captain. Straithe kam zu Sarah und gab ihr den breitkrempigen Baumwollhut.
"Setzen Sie das hier auf, und halten Sie sich achtern auf, möglichst weit weg von der Gaffel."
Sarah vermutete, dass die Gaffel der beschädigte Balken war, an welchem eines der dreieckigen Segel befestigt war. Sie sah, dass das schwere Rundholz jeden Augenblick hinabstürzen konnte, und erklärte sich gern bereit, der Anordnung Straithes Folge zu leisten.
"Sehen Sie zu, dass Sie das durchhalten", erklärte Straithe kurz. "Wenn Sie für Unruhe sorgen oder sich mit den Männern einlassen, dann werfe ich Sie über Bord."
Ehe sie sich eine passende Antwort für diese Unhöflichkeit einfallen lassen konnte, war er schon davongeschritten. Offensichtlich bedauerte er bereits die Entscheidung, die er in der vergangenen Nacht getroffen hatte.
Nun, sollte er sie bedauern, so viel er wollte. Sarah war an Bord der Phoenix, und hier würde sie bleiben. Sie stülpte sich den Hut auf und zog sich zu einer Bank auf der Leeseite zurück. Die stand zwar ziemlich weit hinten, wie der Kapitän es ihr befohlen hatte, aber von dort aus konnte sie das ganze Deck überblicken und auch die See.
Die Männer beobachteten sie weiterhin, während sie ihrer Arbeit nachgingen. Sarah hörte mehr als einmal, dass Frauen Unglück bedeuteten, auch wenn sie einem Mann den Kopf so gut zunähen konnten wie ein Segelmacher. Sie ertrug ihr Gemurmel und die missbilligenden Blicke den Rest des Tages und auch noch den nächsten.
Am Morgen des dritten Tages kam Okunah zu ihr. Er zerrte das jüngste Besatzungsmitglied hinter sich her. Der Junge, von dem Sarah später erfuhr, dass er gerade elf Jahre alt war, hatte eine Beule so groß wie das Ei einer Seeschildkröte in seiner Armbeuge.
Die kräftige Stimme des Afrikaners übertönte das Protestgeschrei des Jungen. "Würden Sie mir helfen, die Beule zu öffnen, Miss Sarah?"
Der Gefangene wehrte sich mit Händen und Füßen gegen Okunahs Griff. "Ich will nicht, dass sie geöffnet wird!"
"Doch, das willst du."
Als der Afrikaner seinem Standpunkt Nachdruck verlieh, indem er mit seiner freien Faust dem Jungen gegen den Kopf schlug, stand Sarah auf und folgte den beiden unter Deck. Sie plauderte heiter mit dem Jungen, der auf den Namen Henry Fulks hörte, über die Streiche ihrer Brüder und versuchte, ihn von dem gefährlich aussehenden Messer abzulenken, das Okunah an seinen Arm führte. Sie hatte nicht den Eindruck, dass er ihr auch nur die geringste Aufmerksamkeit schenkte, bis der Junge ihre Hand nahm und sie mit aller Kraft drückte.
"Erzählen Sie mir mehr von Ihrem Bruder Harry", flehte er, "hat er wirklich Feuerwerkskörper im Hühnerstall gezündet?"
"Das hat er wahrhaftig getan. Die Hennen haben wochenlang keine Eier gelegt. Das hat meinen Vater überzeugt, dass es besser wäre, ihn nach England zur Schule zu schicken."
"Ich bin nie in die Schule gegangen. Ich …"
Er stieß einen erstickten Schrei aus. Sarah lächelte ihm beruhigend zu, während sich eine erstaunliche Menge Flüssigkeit in die Schale ergoss, die sie bereitgehalten hatte.
"Na also. Ist es jetzt nicht viel besser?" fragte sie.
"Doch, Madam, das ist es."
Als der schmerzhafte Druck nachließ, hüpfte Henry vom Tisch. Ein weiterer Schlag von Okunah erinnerte ihn an seine Manieren. Er dankte Sarah mit einem schiefen Lächeln und rannte hinaus. Sie konnte nur den Kopf schütteln über die Widerstandskräfte der Jugend.
Das Ende von Henrys Schmerzen setzte auch dem Gerede in der Mannschaft ein Ende. Aber es war Sarahs unerwartetes Talent als Schmugglerin zuzuschreiben, dass sie schließlich doch noch das bedingungslose Vertrauen der Männer gewann.
Natürlich hatte sie nie beabsichtigt, sich in illegale Geschäfte verwickeln zu lassen. Es geschah rein zufällig, als
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