Historical Exklusiv Band 06
die Gestalt, die ein paar Schritte hinter dem Kapitän stand.
"Sarah!"
Der Freudenschrei hallte von den Wänden wider. Tränen rannen über die Wangen des Jungen, als er sich in Sarahs Arme warf. Sarah bekam selbst feuchte Augen, sank auf die Knie und drückte ihn an sich. Ihr Strohhut rutschte dabei vom Kopf und fiel auf ihren Rücken, und die Bänder schnürten ihr beinahe den Hals zu, während sie den Bruder umarmte.
Er erholte sich schneller als sie. Verlegen über diese Zurschaustellung von Gefühlen, befreite Charlie sich aus ihren Armen und sah sich um.
"Wo ist Papa? Du hast ihn doch gefunden, oder, Sarah?"
Sie schluckte. "Wir … wir haben ihn gefunden."
"Aber du bist doch nicht ohne ihn zurückgekommen?" Seine Augen wurden kugelrund. "Hat er sich wieder im Schweinestall verbarrikadiert, wie damals in Punjab?"
"Nein, das hat er nicht."
Der Junge sprang vor Aufregung über die Abenteuer seines Vaters von einem Fuß auf den anderen. "Sag nicht, er ist schon wieder auf der Suche nach einem anderen Eremiten."
Sarahs Kehle schmerzte, von den Hutbändern ebenso wie von den Worten, die sie nicht herausbrachte.
"Nein, Charlie", meinte sie heiser. "Er ist nicht auf der Suche nach einem anderen Eremiten."
"Wo ist er dann?" wollte der Junge wissen. Plötzlich runzelte er die Stirn. "Und warum weinst du? Du weinst doch sonst nie, Sarah!"
"Ich … ich weine nicht. Ich …"
"Doch, du weinst!" Charlies Unterlippe zitterte. "Warum, Sarah? Sag, ist Papa etwas zugestoßen?"
Sie schämte sich, kein Wort herausbringen zu können.
Straithe übernahm die schmerzliche Aufgabe für sie. Er kniete nieder und war nun mit Charlie in Augenhöhe. "Dein Papa ist tot, Junge."
Der Junge erbleichte. "Tot?"
"Ja. Er starb sehr tapfer. Er wurde von einer Kugel getroffen, als er uns half, einer Horde von …"
"Nein!"
Ein leiser Aufschrei war das erste Zeichen von Abigails Anwesenheit. Sarah drehte sich um und sah ihre Schwester in der Tür zum Wohnzimmer stehen. Ehe Sarah etwas sagen konnte, erbleichte Abigail. Dann schwankte sie und verdrehte die Augen.
Straithe sprang auf. Er fing Abigail auf, ehe sie stürzte, hob sie in die Arme und starrte in ihr Gesicht.
Sarah hatte nicht geglaubt, dass sie noch größeren Schmerz empfinden könnte. Aber der Anblick von James Kerrick, der ihre Schwester betrachtete, traf sie bis ins Herz. Er sah aus, als hätte ihn ein Blitzschlag getroffen.
10. Kapitel
"Sie ist ein Engel."
Liam Burkes geflüsterte Bemerkung veranlasste James, den Blick von der Karte abzuwenden, die er gerade betrachtet hatte. Es überraschte ihn nicht, dass der Freund sich dem sonnenüberfluteten Deck zugewandt hatte – und den beiden Frauen, die unter dem Segeltuch mittschiffs saßen. Eine vor allem zog Liams Aufmerksamkeit auf sich.
Die Brise presste ihr das graue Trauerkleid an die schlanke Gestalt. Bänder in demselben perlgrauen Farbton hielten eine Strohschute auf ihren goldenen Locken fest. Ein paar davon schmiegten sich an ihren schlanken Hals, den sie anmutig gebeugt hielt, während sie dem Jungen, der mit gekreuzten Beinen neben ihr saß, aus einem Buch vorlas.
"Ein Engel ist auf die Erde gekommen", meinte Liam. "Um uns zu zeigen, dass es trotz allem noch Schönheit und Güte gibt."
"Ja", stimmte James trocken zu. "Sie ist beinahe perfekt."
Der Ire war so in Abigail Abernathys atemberaubenden Anblick vertieft, dass er die leise Spur von Ironie in der Bemerkung des Kapitäns nicht hörte.
In der Woche, seit die Phoenix Macao verlassen hatte, musste James feststellen, dass Perfektion an seinen Nerven zerrte. Wie der Rest der Mannschaft ertappte er sich dabei, dass er stets auf seine Worte achtete, damit diese Schönheit nicht vor Verlegenheit errötete. Und noch mehr als auf die Worte musste er auf seine Taten achten. Die Männer hatten rasch gemerkt, dass ein Hieb gegen den Kopf eines Kameraden während eines Streits oder einer der groben Scherze, mit denen sie sich die Langeweile an Bord vertrieben, Tränen der Verzweiflung in diese herrlichen Augen treiben konnte.
"Sie erinnert mich doch ein wenig an meine Kate", murmelte Burke.
James sah den Freund überrascht an. Seines Wissens war dies das erste Mal seit Jahren, dass Liam den Namen seiner verstorbenen Frau ausgesprochen hatte.
"Katies Haar war mehr braun als goldblond", fuhr Burke leise fort, "und sie besaß nicht so herrliche Augen, aber sie strahlte genau dieselbe Sanftheit aus. Auch wenn die Kinder an ihren Röcken zerrten und das Baby
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