Historical Exklusiv Band 06
Absatz kehrt und verließ sie mit dem Versprechen, ihr chinesische Kleidung zu bringen, sobald sie in der Bucht von Macao vor Anker gingen.
Sarah verbrachte die folgenden Stunden in vollkommener Fassungslosigkeit. Mit ein paar knappen Sätzen hatte Straithe die Ruhe zerstört, die sie sich so mühsam erarbeitet hatte. Ihre Gedanken überschlugen sich, während sie gleichzeitig überlegte, wie sie Abigail und Charlie am besten beibrachte, dass ihr Papa tot war, was sie davon halten sollte, dass Straithe eine fremde Comtesse in ihr Problem verwickeln wollte, und sich fragte, wie der Kapitän von seinem sündhaften Leben loskommen sollte, wenn nicht durch eine Ehe mit Abigail. Aus irgendeinem Grund beschäftigte sie die Sorge um Straithes Zukunft fast so sehr wie die um die Zukunft ihrer Geschwister.
Und zu ihrem Ärger vermischte sich das alles innerhalb der wenigen Stunden, die es dauerte, bis sie den Hafen von Macao erreicht hatten.
Ihrer Bitte entsprechend, beschaffte der Kapitän eine Hose, eine Tunika und den ovalen Strohhut von einem der Bootsmädchen. Er wies Burke an, die Vorräte des Schiffes aufzufüllen und die Mannschaft um jeden Preis von den Kneipen und Bordellen fern zu halten, und begleitete die verkleidete Sarah an Land. Sie saß neben ihm im Sampan und hörte nicht auf das heitere Geplapper des Mädchens, das sie in den Hafen ruderte. Es schnürte ihr das Herz ab, wenn sie sich vorstellte, dass sie die Stadt, die mehr als fünf Jahre lang ihre Heimat gewesen war, jetzt zum letzten Mal sehen würde.
Strahlend erhob sich Macao auf den Hügeln vor ihnen, wie ein europäischer Edelstein in der Schatztruhe des riesigen unbekannten China. Eine halbe Meile sanft gerundeter Küste bildete den Hafen, an dem die Praya Grande entlangführte. Sarah war die breite, baumlose Esplanade häufig mit Abigail entlanggeschlendert oder hatte zugesehen, wie Charlie den Reifen rollte oder mit anderen Kindern spielte.
Sie spürte einen Kloß in der Kehle und hob den Blick von der breiten Bucht zu den Gebäuden, die an der Küste errichtet worden waren. Die an westliche Architektur angepassten Häuser wirkten aus der Ferne wie die Verzierungen an einer überdimensionalen Torte, von dem Portico mit den sechzehn Säulen, der zum Haus des Gouverneurs gehörte, bis zu den kleineren, aber nicht weniger kunstvollen Gebäuden weiter oben am Hügel. Kleine grüne Gärten waren neben den Häusern zu sehen und hier und da sogar ein Kirchturm.
Mit klopfendem Herzen suchte Sarah nach der eckigen Front des Missionsgebäudes. Sie hoffte, einen Blick darauf erhaschen zu können, doch die Segel einer Dschunke versperrten ihr die Sicht. Sie presste die Hände fest zusammen und dachte noch einmal darüber nach, was sie Abigail und Charlie über den Tod ihres Vaters erzählen wollte.
Zu ihrem Bedauern konnte sie sich an keinen der sorgfältig zurechtgelegten Sätze erinnern, sobald sie ihr schäbiges, bunt möbliertes Zuhause betrat. Es schnürte ihr die Kehle zu, als sie Charlies Kricketschläger und seine Bücher überall im Wohnzimmer verstreut sah, die anmutigen Aquarelle, die Abigail gemalt und so gehängt hatte, dass sie die Risse in der Wand möglichst verbargen. Hier war sie glücklich gewesen. Trotz ihrer Sorgen wegen der prekären Finanzlage der Abernathys und Papas zunehmender Exzentrizität war Sarah hier glücklich gewesen.
Jetzt musste sie dieses Haus für immer verlassen und sich ein neues Zuhause suchen in einem kalten, nebligen Land, an das sie sich kaum noch erinnern konnte.
"Geht es dir gut, Sarah?"
Sie sah auf und stellte fest, dass Straithe sie beobachtet hatte. Er sah besorgt aus. Sie blinzelte gegen die Tränen an und versuchte, eine ruhige Antwort herauszubringen. Ehe sie etwas sagen konnte, hörte sie Schritte und drehte sich um.
"Ich weiß, wo es ist", rief eine junge Stimme. "Ich ließ es im Schirmständer. Ich werde …"
Charlie rannte um die Ecke und prallte direkt gegen Straithe. Der Kapitän wich ein oder zwei Schritte zurück, doch es gelang ihm, das Gleichgewicht zu halten und den erschrockenen Jungen zu fassen, ehe sie beide zu Boden stürzten. Das Kind sah zu dem unerwarteten Besucher auf. Sein Gesicht war mit Johannisbeermarmelade verschmiert, und die dunklen Locken standen ihm wie immer wirr und unordentlich um den Kopf herum.
"Na so etwas! Entschuldigen Sie, Sir. Ich …" Dann unterbrach der Junge sich und machte große Augen, als er Straithe erkannte. Einen Augenblick später entdeckte er
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