Historical Lords & Ladies Band 39
…“
„Lass mir doch wenigstens noch ein bisschen Zeit, Papa, ehe ich heiraten muss. Bitte!“
Er schüttelte sie heftiger, und seine Finger gruben sich in ihre Haut. „Du bist einundzwanzig!“, schrie er. „Manche halten dich bereits für eine alte Jungfer! Sei froh, dass Jim dich überhaupt noch will!“
Tränen stiegen ihr in die Augen.
„Hölle und Teufel, ich wünschte, ich hätte dir nicht erlaubt, all diesen Unsinn zu lernen. Bücher lesen, ha!“ Er wandte sich ab, griff nach einem Band, der auf dem Tisch lag – Jemimas Lieblingsroman, Castle Rackrent –, und warf ihn in den Kamin, wo er sofort Feuer fing. Dann drehte er sich wieder zu seiner Tochter um. „Du willst wie eine Dame reden und vornehm tun? Dummkopf! Du weißt genau, was deine Pflicht ist! Und ich werde dafür sorgen, dass du sie erfüllst!“
Jemima zwang sich, ruhig zu bleiben. Da ging ihre kostbare Lektüre in Flammen auf. Aber sie war daran nicht ganz unschuldig. Sie hätte ihren Vater eben nicht provozieren dürfen. Andererseits spürte sie ganz deutlich, dass sie niemals, niemals Jims Frau werden konnte. Was also sollte sie tun?
„Ich verstehe gar nicht, was du gegen Jim hast“, begann ihre Mutter mit leiser Stimme. „Er ist doch ein netter Kerl. Immer freundlich und gut gelaunt. Schon jetzt kann er dir ein bequemes Leben bieten. Er wird dich gut behandeln. Und wenn ihr erst Kinder habt, könnt ihr …“
„Sei still!“, schrie Alfred Jewell in diesem Moment. „Ihr verfluchten Weiber! Müsst ihr denn ständig schwatzen?“
Seine Gattin verstummte, und Jemima hielt den Atem an. Schon immer war ihr Vater jähzornig gewesen. Wenn er nur fluchte, konnte man von Glück reden. Denn leider neigte er auch zu Gewalttätigkeiten.
Jetzt schien er sich gerade in einen seiner berüchtigten Ausbrüche hineinzusteigern. „Und du“, brüllte er Jemima an, „wagst es, dich mir zu widersetzen?“ Er holte aus und schlug sie ins Gesicht.
Ihr Kopf flog zur Seite, und einen Moment lang tanzten Sterne vor ihren Augen. Trotzdem besaß sie die Geistesgegenwart, nach einem Kissen zu greifen und es schützend vor sich zu halten.
„Hast du das in dieser Schule gelernt?“ Ein neuer Schlag. „Hat man euch da beigebracht, die Eltern nicht zu achten?“ Jewell fasste nach dem Kissen, entriss es seiner Tochter und versetzte ihr eine so kräftige Ohrfeige, dass ihr Kopf gegen die hölzerne Lehne des Sofas knallte.
Jemima stieß einen schrillen Schrei aus. Oh Gott, dieser Schmerz! Einen Moment lang schien die Welt aus nichts anderem zu bestehen.
Es dauerte ein paar Augenblicke, ehe Jemima wieder hören und sehen konnte. Voller Entsetzen bemerkte sie, dass ihr Vater nun auf ihre Mutter eindrosch, die wimmernd auf der Erde lag.
Plötzlich schlug jemand gegen die Tür. Jewell ließ von seiner Frau ab und richtete sich auf.
Gerade als Jemima Hoffnung schöpfen wollte, machte er seinen ledernen Gürtel ab, holte aus – und traf. Ein brennender Schmerz durchfuhr die Schulter der jungen Frau. Sie schloss die Augen.
Robert Selborne wäre niemals auf die Idee gekommen, dass es schwierig sein könnte, Miss Jewell zu sprechen. Mithilfe des Werbezettels ihres Vaters fand er das Haus an der Great Portland Street problemlos, zumal es sich durch einen neben der Tür angebrachten vergoldeten Kaminkehrerbesen von den anderen abhob. Er stieg die Stufen zum Eingang hinauf und hob die Hand, um zu klopfen.
Erst jetzt fiel ihm ein, dass möglicherweise die ganze Familie daheim war. Auf keinen Fall wollte er sein Anliegen in Anwesenheit von Menschen vorbringen, die ihn vielleicht für verrückt erklären würden. Es war unumgänglich, zunächst mit Miss Jewell allein zu sprechen.
Er zögerte – und bemerkte, dass die Haustür nur angelehnt war. Im selben Moment hörte er von drinnen ein seltsames Krachen, dem ein Schmerzensschrei folgte.
Bei Jupiter, irgendetwas stimmte da nicht! Robert stieß die Tür auf und trat ein.
In der Eingangshalle empfing ihn ein verwirrendes Bild: Ein Dienstmädchen stand reglos inmitten der Raums. Es wimmerte vor sich hin und hatte die Schürze über den Kopf gezogen, als könne es sich so vor aller Welt verstecken. Auch Jack Jewell – Robert erkannte den Bruder der kleinen Schornsteinfegerin sofort – war da. Er bewegte sich schnell und zielstrebig. Er lief auf eine geschlossene Tür zu und warf sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen. Nichts passierte. Er stieß einen Fluch aus und wollte erneut Anlauf nehmen. Dann
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