Historical Lords & Ladies Band 39
als die Gefangenen vor ihm war Jack, infolge seiner Arbeit als Schornsteinfeger, ein geschickter Kletterer, und es gelang ihm zu entkommen. Er war zum Wirtshaus zurückgeschlichen, hatte sein im Mietstall untergestelltes Pferd geholt und dann alles darangesetzt, unerkannt Kontakt zu seiner Schwester aufzunehmen.
„Du musst mir helfen!“, wiederholte er jetzt in drängendem Ton.
Jemima, die genau wusste, dass man sie von der Kutsche aus sehen konnte, drückte ihm ihre Geldbörse in die Hand und begann lauthals zu schimpfen. „Sie Schuft, Sie Nichtsnutz, hier haben Sie das Geld. Und nun verschwinden Sie! Auf Delaval gibt es keinen Platz für Sie! Es sei denn, Sie wollten im Schweinestall hausen!“
„Komm heute Nacht dorthin und bring etwas zu essen für mich mit“, flüsterte Jack und wandte sich zum Gehen. Er band sein Pferd los, saß auf und gab dem Tier die Sporen.
Jemima rannte zur Kutsche zurück, wo Letty sie mit ausgestreckten Händen und weit aufgerissenen Augen empfing.
Lady Marguerite warf den beiden jungen Frauen einen ungeduldigen Blick zu und befahl dem Kutscher mit lauter Stimme: „Los, fahren Sie! Wir haben schon genug Zeit mit diesem unfähigen Dieb verloren!“
„Wieso unfähig?“, erkundigte Letty sich. „Mir erschien er recht … geübt.“
„Geübt in der Kunst der Verführung vielleicht“, gab die alte Dame zurück. „Himmel, ich kann diese gut aussehenden Typen nicht ausstehen!“
„Schade, dass er keinen Kuss stehlen wollte“, murmelte Letty, während Jemima sagte: „Man konnte doch sein Gesicht gar nicht sehen.“
„Ha!“ Lady Marguerite musterte ihre Enkelin tadelnd und meinte dann zu Jemima gewandt: „Wenn wir ihn besser beschreiben könnten, würde man ihn bestimmt bald erwischen und hängen.“
„Aber …“ Letty war blass geworden. „Er sah aus wie …“
„Letty!“
„Großmama, ich wollte sagen: Er sah doch aus wie ein guter Kerl, der unerwartet in Schwierigkeiten geraten ist. Wirklich, er hat mir irgendwie leidgetan. Er hatte ja nicht einmal einen ordentlichen Umhang. Es muss schrecklich sein, als Straßenräuber zu leben …“
Jemima hatte den Kopf abgewandt und starrte angestrengt zum Fenster hinaus. Sie durfte sich nicht anmerken lassen, dass sie den vermeintlichen Halunken erkannt hatte. Und es gab noch so viel anderes, das sie bedenken musste. Wahrhaftig, ihre Gedanken überschlugen sich. Warum war Jack überhaupt in Oxfordshire? Wie kam es, dass er sich ausgerechnet in der Gastwirtschaft „Fuchs und Henne“ aufgehalten hatte, als dort ein Mord geschah? Und wie, zum Teufel, war er auf die Idee gekommen, in die Rolle eines Straßenräubers zu schlüpfen?
Der Konstabler, der auf Delaval erschien, um Lady Marguerites Anzeige wegen des Überfalls aufzunehmen, war – wie Jemima fand – beruhigend dumm und unerfahren. Die Arbeit wurde ihm zudem dadurch erschwert, dass jede der drei Damen eine andere Beschreibung des Täters lieferte.
„Er war groß und ziemlich fett und sprach wie jemand aus dem Norden“, sagte Lady Marguerite.
„Er war so ein attraktiver dunkler Typ“, erklärte Letty, um auf Nachfragen hinzuzusetzen: „Nein, ich habe sein Haar nicht gesehen. Und sein Gesicht natürlich auch nicht. Er hatte ja über Mund und Nase ein Tuch gebunden. Trotzdem bin ich sicher, dass er …“ Sie zuckte die Schultern.
„Er war eher klein“, berichtete Jemima. „Und ich denke, dass er blond war. Als er mich von der Kutsche fortgezogen hat, konnte ich eine Strähne seines Haars sehen, die unter dem Hut hervorschaute. Und das Pferd, das er ritt, war ein brauner Hengst.“
„Nein, es war ein Apfelschimmel“, widersprach Letty.
„Unsinn, es war eine schwarze Stute“, verkündete Lady Marguerite.
Die kleine Gruppe saß im Salon. Eines der Mädchen hatte Tee serviert, von dem Mr Scholes, der Gesetzeshüter, sich immer wieder nachschenken ließ, während die anderen kaum an ihren Tassen nippten. Auch Robert und Ferdie waren anwesend. Sie wollten sich kein Wort von dieser unglaublichen Geschichte entgehen lassen. Ein Straßenräuber im Wald von Wychwood! Welch ein Ereignis!
Schließlich stellte Scholes seine Tasse ab, warf einen Blick auf seine Notizen und vergewisserte sich: „Sie mussten also nicht aussteigen, Mylady? Und Ihren Schmuck hat er auch nicht gestohlen?“
„Ha!“ Die alte Dame nickte bekräftigend. „Ich habe ihm unmissverständlich erklärt, dass er mich nicht behandeln kann wie ein dummes Mädchen. Das muss ihn
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