Historical Weihnachtsband 1990
schnitt und nähte an ihrem zukünftigen Ballkleid. Es war bereits nach zehn Uhr. Sie trug schon Nachthemd und Morgenrock, und das Haar fiel ihr offen über die Schultern. Eigentlich hatte sie zu Bett gehen wollen, doch sie war noch nicht sehr müde gewesen, und der Wunsch, ein Stückchen weiterzukommen an ihrem Kleid, war übermächtig gewesen.
Der Wind heulte um die Hausecken. Das war ein einsamer, bedrückender Ton, und Melinda schauderte, obwohl ihr neben dem warmen Eisenofen nicht kalt war. Die Sonne hatte in den vergangenen beiden Tagen hell geschienen und das Eis bis auf ein paar Stellen im Schatten geschmolzen. Trotzdem war es weiterhin kalt, besonders nachts.
Melinda hörte ein Geräusch und lauschte reglos, die Hand über dem Kleid. Es hatte wie ein Ruf geklungen. Da war er wieder, nur näher. Sie stand auf, legte das Kleid auf den Schaukelstuhl und ging ans Fenster, um den Vorhang zurückzuziehen und hinauszuschauen.
Die Nacht war mondlos und finster. Einen Moment lang sah sie überhaupt nichts.
Dann entdeckte sie das Aufblitzen einer
Bewegung auf der Veranda des großen Hauses. Plötzlich begann die Glocke zu läuten, die dort hing. Erschrocken fuhr Melinda zusammen und faßte sich an die Kehle.
Wenn die Glocke mitten in der Nacht geläutet wurde, konnte das nur einen Notfall bedeuten. War jemand krank? Nein, deshalb hätte man nicht die ganze Ranch aufzuwecken brauchen. Es mußte etwas sein, bei dem Hilfe gebraucht wurde.
Die Glocke dröhnte weiter. In der Schlafbaracke und im Haus des Vorarbeiters gingen die Lichter an. Melinda beobachtete, wie die Tür des Haupthauses geöffnet wurde und Daniel MacKenzie mit einer Kerosinlampe in der Hand hinaustrat. Sein Haar war zerzaust, als hätte er geschlafen, und das Hemd hing ihm über die Hosen.
Der Cowboy ließ von der Glocke ab und eilte zu Daniel. Er gestikulierte lebhaft und deutete auf den Viehstall. Daniel hastete ins Haus, kam ohne die Lampe wieder zurück, und beide Männer rannten zum Stall.
Melinda konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Sie eilte zur Haustür und öffnete sie. Von überallher rannten nun Männer auf den Stall zu. Hinter sich hörte sie Lees verschlafene Stimme. „Was ist los, Mama?"
„Ich weiß nicht recht." Dann entdeckte sie einen seltsamen Schein am Ende des Stalls, und ihr stockte der Atem. „O mein Gott! Es brennt! Schnell! Man wird jede Hilfe brauchen."
Sie stürzte ins Schlafzimmer und tauschte ihre weichen Hauspantoffeln gegen Arbeitsschuhe. Sich anzuziehen nahm sie sich keine Zeit. Bei einem Feuer zählte jede Minute. So warf sie nur den Mantel über Nachthemd und Morgenrock und schnappte sich in der Küche einen Eimer. Damit hastete sie zur Tür hinaus und über den Hof auf den Viehstall zu, wobei ihr der Eimer gegen das Bein schlug. Lee rannte neben ihr her.
Einige der Männer, einschließlich MacKenzie, trugen ihre Halstücher vor dem Gesicht, um sich vor dem Rauch zu schützen. Sie holten die vor Furcht rasenden Pferde aus dem Stall und ließen sie laufen. Will Moore eilte zum Pferch, da die Pferde dort auch schon unruhig wurden und wieherten. Er öffnete das Gatter und ließ die Tiere frei.
Andere Männer rannten zwischen dem kleinen, runden metallenen Wassertank neben dem Pferch und dem Stall hin und her mit Eimern voll Wasser zum Löschen.
Es war offensichtlich, daß das Wasser im Tank nicht reichen würde. Deshalb ging Melinda an die Pumpe und begann heftig zu pumpen. Lee nahm den Eimer, füllte ihn mit Wasser und eilte zu den Männern im Stall.
Melinda pumpte und pumpte, bis sie glaubte, die Arme müßten ihr abfallen. Als sie nicht mehr konnte, tauschte Lee mit ihr, und sie trug immer wieder den schweren Eimer voll Wasser zum Feuer. Bald wurde klar, daß das Gebäude nicht zu retten war, und Daniel MacKenzie rief die Männer zurück.
Sie konzentrierten sich nun darauf, den Zaun des Pferchs und den Boden zum Stall herum naßzuspritzen. Anschließend wurden die Wände der Schlafbaracke und die Nebengebäude mit Wasser getränkt. Der Verlust des Viehstalls war nicht das schlimmste. Ein Stall war rasch wieder aufgebaut, vor allem bei den vielen Cowboys, die für MacKenzie arbeiteten. Die größte Gefahr bestand darin, daß sich das Feuer auf die umliegenden Gebäude ausbreiten und diese ebenfalls vernichten konnte oder, was noch schrecklicher wäre, das Gras erfaßte und die Prärie in Brand setzte.
Erneut wechselte sich Melinda mit Lee ab und fuhr fort zu pumpen. Hin und wieder hörte sie auf, um
Weitere Kostenlose Bücher