Historical Weihnachtsband 1990
dieser armseligen Hütte ausziehen, die halb in den Boden hineingebaut und mit Gras gedeckt war. Eine solche Hütte mochte in diesem Teil des Landes, wo es kaum Bäume gab, warm und praktisch sein. Aber sie roch nach Erde, und man hatte kaum genug Platz darin, sich umzudrehen. Manchmal, im Winter, wenn sie durch Schnee oder Kälte im Innern gefangen waren, hatte Melinda geglaubt, sie müßte verrückt werden wegen des fehlenden Raums und mangelnder Möglichkeit des Alleinseins.
Doch nun sollten sie und Lee ein richtiges Haus bekommen. Es mochte klein sein, aber es war wenigstens aus Holz gebaut. Sie hatte einen Blick hineingeworfen, bevor sie MacKenzies Ranch verlassen hatte. Zwei kleine Schlafzimmer und ein Wohnzimmer befanden sich darin. Und es würde auch Spaß machen, reichhaltiges, gesundes Essen zu kochen, ohne zu knausern und sich zu behelfen, und ohne sich Gedanken um die Kosten zu machen.
Was machte es also, wenn Mr. MacKenzie ein ungeschliffener und mürrischer Kerl war? Sie würde schon mit ihm fertig werden . . . auch mit mehr, wenn Lee dafür genug zu essen hatte und er nicht frieren mußte.
„Hurra!" stieß Lee hervor und wirbelte begeistert mit seiner Mutter im Kreis, bis ihnen beiden so schwindlig war, daß sie aufhören mußten. Melinda ließ sich auf einen Stuhl fallen und schnappte nach Luft.
„O Mama!" rief Lee. „Wir werden auf einer Ranch leben! Das hab ich mir schon immer gewünscht. Wird er mich helfen lassen bei den Pferden und beim Vieh? Hast du ihm gesagt, daß ich Daddy viel beim Vieh geholfen habe?"
„Nein. Wir haben uns, äh, ziemlich kurz unterhalten. Er hat nur gesagt, daß er morgen jemanden schickt, der uns beim Umzug hilft."
„So bald? Dann muß ich morgen nicht in die Schule gehen?" Lees Gesichtszüge hellten sich noch mehr auf. Bücher interessierten ihn nur wenig.
„Nein, das brauchst du nicht." Melindas Miene verfinsterte sich. Sie war sich nicht sicher, wie häufig er demnächst überhaupt noch zur Schule gehen würde. Es wäre ein weiter Weg zu laufen, und ein Pferd zum Reiten hatte er nicht.
„Wo werden wir wohnen? Im Haus vom alten MacKenzie?" erkundigte sich Lee.
„So spricht man nicht von anderen Menschen", mahnte seine Mutter.
„Ja, Mama. Also, wo wohnen wir?"
„Nicht in seinem Haus, wir bekommen ein eigenes", erzählte Melinda.
„Wirklich? Wie sieht es aus?" wollte Lee neugierig wissen.
„Es ist nur ein kleines Holzhaus."
Lee strahlte, wobei sich ein Grübchen neben seinem Mund zeigte. „Dann ist es wenigstens über der Erde."
Melinda lachte. Lee kannte ihre Gefühle, was das Leben halb unter dem Erdboden betraf. „Ja. Und es hat eine eigene kleine Veranda und für jeden von uns beiden ein Schlafzimmer."
„Ehrlich? Prima! Und wie sieht MacKenzies Haus aus? Gibt es einen Stall? Hast du Pferde gesehen?" Lee überhäufte seine Mutter mit Fragen.
Sie schüttelte den Kopf. Pferde waren in den vergangenen Monaten zu einem seiner Lieblingsthemen geworden. Einer von McClures Jungen ritt auf einem Schecken zur Schule, und Lee hatte Melinda das Pferd wiederholt voll Sehnsucht und Bewunderung beschrieben. Sie wußte, wie sehr er sich ein eigenes Pony wünschte, und es tat ihr weh, daß sie nicht mehr Geld hatte, um ihm eines zu schenken. Was es noch schmerzlicher machte war, daß Lee sie nie darum bat, ihm ein Pferd zu kaufen, denn er war sich ihrer beschränkten Verhältnisse wohl bewußt. Auf kindliche Art glaubte er, wenn er nicht fragte, wüßte seine Mutter auch nicht, wie sehr es ihn danach verlangte.
„Tiere habe ich keine gesehen", antwortete sie. „Aber ein großer Viehstall ist da und ein Pferch. Wenn wir erst dort leben, wirst du die Pferde bestimmt sehen."
„Glaubst du, er läßt mich im Pferdestall helfen?" wollte Lee weiter wissen.
„Das weiß ich nicht. Vielleicht nach einer Weile, wenn er gesehen hat, wie anständig und vorsichtig du bist."
Lee fuhr fort, zu reden und Fragen über ihr neues Zuhause zu stellen, während sich Melinda an die Arbeit machte. Bis zum nächsten Morgen mußte alles fertig sein.
Zum Glück gab es nicht viel zu packen. Vier Jahre zuvor, als sie aus Ost-Texas ins Panhandle umgezogen waren, hatten sie den größten Teil ihres Eigentums zurücklassen müssen. Sie besaß nur das allernötigste an Töpfen, Pfannen, Tellern und Küchengeräten. Decken und Bettwäsche bewahrte sie sowieso schon in einer Truhe auf.
Auch Lee legte sich tüchtig ins Zeug und kümmerte sich um den größten Teil der abendlichen
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