Historical Weihnachtsband 1991
setzte Angelica den Hut auf und warf den Umhang um die Schultern. Es war sinnlos, länger in der Nähe dieses Mannes zu bleiben, und würde nur noch schmerzlicher zeigen, wie sehr sie ihn auch heute noch liebte.
Unbemerkt ging sie auf die Straße hinaus in die Kälte. Es war dunkel, und Angelica warf unsicher einen Blick nach rechts und links. Es war nicht weit bis zu ihrem Haus.
Gewiß würde sie keinem Menschen begegnen, schon gar keinem, der Böses im Schilde führte. Trotzdem schritt sie schneller aus in der Dunkelheit, die kein Mondstrahl durchdrang.
Soweit der eisige Weg mit dem festgetretenen Schnee es zuließ, strebte sie der breiten Hauptstraße mit den matt erleuchtenden Gaslaternen zu und bemühte sich, nicht auf die gedämpften Geräusche zu achten, die gelegentlich aus der Finsternis an ihr Ohr drangen. Weiter vorne sah sie auf einmal zwei Polizisten und atmete erleichtert auf. Gleich danach verschwanden die beiden freilich um eine Ecke in eine andere Hauptstraße, und Angelica fand sich wieder mutterseelenallein, als sie endlich in die Lady Slipper Lane einbog. Ruhig und gepflegt lagen die Häuser zu beiden Seiten. Dennoch fühlte sie sich wie befreit von einem inneren Druck, als sie endlich die Vordertür aufsperrte.
Es war ungeschickt gewesen, den nächtlichen Heimweg allein anzutreten. Das war ihr klar. Als sie nun zurückblickte in die Richtung, aus der sie gekommen war, erschrak sie. Eine einsame Gestalt erschien eben im matten Licht der Laterne. Im nächsten Moment erkannte sie, daß es Matthew Thornton war. Er trug keinen Hut und hatte es offensichtlich sehr eilig gehabt, ihr zu folgen, nachdem sie so unvermittelt und, wie sie gemeint hatte, unbemerkt aufgebrochen war.
Thornton drehte sich um und schritt langsam den Weg zurück, den er gekommen war. Er hatte über Angelica gewacht. Würde er das jeder alleinstehenden Frau gegenüber als seine Ritterpflicht erachten, oder war er Angelica nachgegangen, weil sie einander einmal soviel bedeutet hatten? Wenn es eine Antwort gab, so kannte sie die jedenfalls nicht.
3. KAPITEL
Im Morgendämmern erwachte Angelica und blickte an die blaßfarbige Zimmerdecke. Nur langsam hob sich am Osthimmel die Sonne. Es war keine sehr gute Nacht für Angelica gewesen. Sie hatte kaum geschlafen und entgegen vager Hoffnung diesmal nicht von Matthew Thornton geträumt. Nur vor ihrem inneren Auge stand immer noch die dunkle Gestalt, scharf gegen das Licht der Gaslaterne gezeichnet. Warum war er ihr gefolgt? Was lag ihm daran, sie sicher und ohne ihr Wissen zu begleiten?
Mit der Hand tastete sie über die leere Betthälfte. Allein in dem schwachen Licht des Schlafzimmers, verbarg Angelica nicht den Schmerz auf dem Gesicht, Zeuge einer Einsamkeit, der manchmal beinahe zu Tränen drängte. Es war nicht äußerliches Alleinsein, das quälte, denn mit den so gegensätzlichen Mitbewohnern war immer etwas los im Hause, und schon gar nicht Sehnsucht nach Philip Hamilton. Daß er nicht mehr an ihrem Leben teilhatte, bedeutete vielmehr Erleichterung. Sie grämte sich um Matthew, um all die Jahre, die sie gemeinsam hätten verbringen können und die unwiderbringlich verloren waren.
Bei der Rückerinnerung an jene verhängnisvolle Auseinandersetzung, die zum Bruch des Verlöbnisses geführt hatte, konnte sie sich des Gedankens nicht erwehren, daß sie es gewesen sei, die das erste heftige Wort gesprochen und die Trennung erwogen habe. Dann wäre alles nicht Matthews Schuld.
Angelica setzte sich auf und schlang die Arme um die Knie. Das dichte kastanienbraune Haar fiel ihr über die Schultern und über den Rücken auf das Bett.
Gegenüber in dem großen Ankleide-Spiegel sah sie undeutlich ihr Bild. Bei dem schwachen Licht hätte man Angelica Hamilton noch für eine Neunzehnjährige halten können. Auch in dem grünen Kleid am vergangenen Tag hatte sie viel jünger gewirkt als in dem tristen Grau und Schwarz, das sie nun schon jahrelang trug. Ob Matthew sie noch immer anziehend fand? Oder sah er in ihr nur die Witwe eines anderen Mannes?
Als die erste Dämmerung den anfangs zaghaften Strahlen der Sonne wich, die langsam höher stieg, stand Angelica auf. Auf bloßen Füßen lief sie schnell an den Waschtisch und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Dabei überlegte sie, ob die durch Miss Lunts Ankunft etwas aufgebesserte Finanzlage es wohl gestatten werde, hier im Schlafzimmer ein Kohlenbecken aufzustellen. Beim Anziehen fror sie. Wieder warf sie einen Blick in den
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