Historical Weihnachtsband 1991
damals Angelica nicht erreicht haben könnte.
Matthew Thornton begleitete Angelica Hamilton noch bis zum Eingang.
Sie zögerte auf der Schwelle. „Ich würde Sie gern hineinbitten, aber durch die beiden neuen Hausgenossen steht alles Kopf bei uns."
„Dafür habe ich volles Verständnis." Er hatte vorher keine Anzeichen für eine ähnliche Situation bemerkt und nahm die Ausrede als das, was sie eben war. Einen Augenblick lang schaute er Angelica forschend an. Ihm entgingen nicht die Kleinigkeiten, die anders geworden waren. Nur ein Liebhaber konnte sie bemerken.
In den braunen Augen verriet sich ein Mißtrauen, als glaubte sie nicht mehr an Glück und Zweisamkeit. Die Wollpelerine war sichtlich abgetragen, an manchen Stellen begann das Futter dünn zu werden, als hätte das Kleidungsstück schon zu viele Winter gedient.
Als Matthew Angelica am Nachmittag abgeholt hatte, war ihm aufgefallen, daß das Haus einen neuen Anstrich benötigte und einige Stellen des Zaunes schadhaft waren. Vor allem freilich erregten die Veränderungen in Angelicas Gesicht und ihren Augen seine Besorgnis. Wenn sie nicht wußte, daß er sie beobachtete, zeigten sich Linien in den Zügen, die vorher nicht da gewesen waren und die von Traurigkeit zeugten.
Sanft berührte er ihre Wange, hätte sie gern geküßt und sie die Jahre vergessen lassen, die sie getrennt hatten. Auch wenn Angelica nicht zurückwich, trat doch wieder jene sonderbare Wachheit in ihren Blick, als erwartete sie, von ihm irgendwie verletzt zu werden. Er zog die Hand zurück.
„Gute Nacht, Angelica."
„Gute Nacht", gab sie fast unhörbar zurück und flüchtete ins Haus.
Auf der Rückfahrt zu den Addams dachte Matthew Thornton nur über Angelica Hamilton nach. Was hatte er bloß getan, daß sie sich vor ihm zu scheuen schien?
Hatte sie Philip Hamilton so sehr geliebt, daß sie es nicht ertrug, wenn ein anderer Mann sie berührte? Beim Gedanken an die Zeit, da er um sie geworben hatte, stieg der nur allzu vertraute Schmerz in ihm auf. Ihre Küsse hatten ihn berauscht und beglückt, die schlanke Gestalt hatte ihm so weich im Arm gelegen, ihre Leidenschaft der seinen entsprochen, selbst wenn es zwischen ihnen nie zu mehr als zärtlichen Küssen gekommen war. Oft genug in den einsamen Jahren danach hatte Thornton sich gewünscht, es hätte zu einer intimeren Begegnung geführt. Vielleicht hätte er Angelica dann leichter vergessen können. Damals hatte er sie freilich zu hoch geachtet, um in sie zu dringen. Und natürlich hatte es keinen Grund gegeben, nicht anzunehmen, daß sie dafür noch ein ganzes gemeinsames Leben vor sich hätten.
Andererseits war Matthew Thornton nicht sicher, ob er den Bruch hätte überstehen können, wenn Angelica ihm erst einmal gehört hätte. So allerdings war ihm nun noch klarer geworden, daß er sie niemals würde vergessen können.
★
Im Hause Addams fand er die Kinder um Phoebe geschart, die ihnen vor dem Kamin ein Märchen vorlas. Geoffrey, seiner Frau gegenüber in einem tiefen Sessel, schien von dieser heimeligen Familienszene ebenso angetan wie die Kleinen von der Geschichte. Trotzdem stand er auf und winkte Matthew mit sich in den Salon hinüber.
„Ich wollte Phoebe nicht mitten beim Vorlesen unterbrechen. Die Kleinen lieben diese Geschichte ganz besonders."
„Ein wunderschöner Anblick", sagte Matthew, und etwas wie Sehnsucht schwang in diesen Worten mit. „Du bist zu beneiden, daß du eine so glückliche Familie hast."
Geoffrey schenkte dem Freund und sich einen Cognac ein und lächelte. „Ich bin mir dessen bewußt und danke meinem Gott tagtäglich dafür. Wie war übrigens das Konzert?"
„Recht erfreulich. Die Kapelle spielte gut."
„Und deine Begleiterin? Sag nicht, daß ihr euch schon wieder gezankt habt."
„Nein, das gerade nicht. Freilich läßt sie keinen Zweifel daran, daß sie einer Werbung durchaus nicht positiv gegenüberstünde." Er umfaßte den Schwenker und drehte ihn zwischen den Handflächen, um den Inhalt anzuwärmen.
„Findest du das?" fragte Geoffrey verwundert.
„Offensichtlich war sie mit Hamilton so glücklich, daß ihr an keinem anderen Mann mehr etwas liegen kann."
Sie saßen einander in den bequemen Ledersesseln gegenüber.
„Hat sie dir das wirklich gesagt?"
„Das nicht gerade, aber es wurde doch sehr deutlich."
Eine ganze Weile blickte Geoffrey Addams unschlüssig auf den Cognacschwenker in der Hand, als wüßte er nicht, sollte er sprechen oder nicht. Endlich schüttelte
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