Historical Weihnachtsband 1991
schlüpfte geräuschlos hinein. Leise zog sie die große Holztüre hinter sich zu. Die vertraute dumpfe Luft hatte etwas Tröstliches, Wärmendes. Beth stand und lauschte.
Eine kleine Laterne brannte auf dem gepflasterten Boden in sicherer Entfernung von verstreutem Stroh und aufgeschichteten Getreidegarben. Beth strengte die Augen an, die schwärzlich grauen Schatten zu durchdringen. Der Wind heulte durch den leeren Heuboden. Irgendwo stampfte und schnob ein Pferd. Als Beth vorsichtshalber noch einmal die Waffe prüfte, ob sie entsichert wäre, schien das Geräusch unwahrscheinlich laut.
Beth ging in die Hocke und beschrieb einen niedrigen Kreis mit dem Lauf der Waffe.
Wo hielt sich der Eindringling versteckt? Ganz in der Nähe nahm sie eine Bewegung wahr. War es hinter dem Haupttor? Sie wandte sich jäh um und sah eine dunkle Gestalt zu dicht vor sich, um schießen zu können. Beth hörte Worte, konnte aber vor Entsetzen nicht fassen, was sie bedeuteten. Der Mann stieß den Lauf der Flinte zur Seite und Beths Hand vom Abzug. Sie schrie auf, versuchte, sich zu wehren, fühlte, wie ihr die Waffe abgenommen wurde und zwei Arme sie hart umspannten.
„Nicht, Mrs. McGowan, Beth! Ich bin es, Jerrod", rief eine tiefe Stimme. Beth brach zusammen und riß ihn mit sich zu Boden.
„Oh, Sie sind es", brachte sie endlich atemlos heraus.
„Ich wollte nur sichergehen, daß Sie es sind."
„Warum sind Sie bloß nicht zum Haus gekommen?"
„Das wollte ich ja, aber erst, sobald es hell gewesen wäre. Ich wollte Sie nicht erschrecken."
„Genau das haben Sie nun allerdings getan. Und hier ist es so kalt."
„Da bin ich Schlimmeres gewöhnt. Im Haus war alles dunkel. Ich dachte, Sie schliefen längst. Ich konnte nicht ahnen, daß Sie eine Art Nachtwache halten, noch dazu mit einer geladenen Flinte in der Hand. Es tut mir leid, Beth, so hatte ich unser Wiedersehen nicht gewollt.
Gewiß hätte auch Beth Jerrod Ross bei hellem Tageslicht nicht auf diese Weise begrüßt. Jetzt dagegen klammerte sie sich fest an ihn. Er hielt sie mit beiden Armen umschlungen und wiegte sie auf seinem Schoß. Kalt und glatt fühlte sie den Lederstiefel an ihrer nackten Wade, über der nun der Schlafrock offen klaffte. Der Geruch der kalten Luft, feuchter Haare, eines nassen Mantels, der Uniform stieg ihr in die Nase. Da, wo die Finger seinen Nacken umfaßten, gerade über der Halsbinde, klopfte sein Puls, der Atem ging stoßweise, ließ den ihren schneller werden. Hatte sie ihn etwa auch erschreckt? Endlich besann sie sich. Die Vernunft sänftigte den Aufruhr in den Sinnen, den die Nähe des
Mannes in ihr ausgelöst hatte. Mochte sie sich da auch noch so wohl fühlen, es gehörte sich einfach nicht, es war unschicklich.
„Kommen Sie ins Haus", sagte sie und versuchte, auf die Beine zu kommen. „Sie müssen schlafen . . . und etwas essen", fügte sie hastig hinzu, als ihr klarwurde, daß sie da eben Jerrod Ross ein Bett unter ihrem Dach angeboten hatte. Mühsam standen sie beide auf, eng aneinandergelehnt.
„Die Briten haben uns überfallen", sagte Beth. „Deshalb habe ich mit einem Gewehr gewacht."
„Ich habe davon gehört. Zum Teil bin ich sogar deswegen hier. Ich will nachprüfen, was sie getan und mitgenommen haben. Und ich muß Winterquartier für unsere Leute in dieser Gegend erkunden. Das sollte freilich fürs erste noch unter uns bleiben."
Wie ein aufgeregtes kleines Mädchen klatschte Beth in die Hände. „Soll das heißen, daß wir hier bald unter dem Schutz der Armee stehen werden? Sie können sich nicht vorstellen, was Ihre Nähe für meine Nachbarn bedeuten würde und . . . für mich."
„Auch für mich, Beth, auch für mich wäre es wunderbar." Jerrod Ross lächelte strahlend und gab Beth die Flinte zurück. Dann bückte er sich nach der kleinen Laterne, nahm Beth am Arm und führte sie durch die Hintertür ins Freie. Mühelos schob er den schweren Holzriegel vor.
Der Wind blies das Licht aus. Beth betrachtete das scharfgeschnittene Profil des Lieutenant-Colonels. Im Mondschein wirkte er ziemlich unwirklich. In ihrer Erschöpfung fragte sich Beth, ob sie etwa Ross aus Träumen heraufbeschworen habe. So sehr hatte sie sich irgendeinen gütigen Geist gewünscht, nun, da Weihnachten vor der Tür stand. Und in dieser frostigen Dezembernacht war ihr Wunsch erfüllt worden: Jerrod Ross war gekommen.
Seine bloße Nähe ließ Beth noch mehr schwanken, als es die Erschöpfung getan hätte. Er schulterte sein Gewehr und den
Weitere Kostenlose Bücher