Historical Weihnachtsband 1991
Sohn und ich leben dort."
„Er ist ein hübscher Junge. Ich sah ihn, als Sie mir auf der anderen Straßenseite auffielen", gestand er. Ihr Herz begann, schneller zu klopfen bei diesen Worten.
Natürlich schalt sie sich im stillen dafür. Hier stand sie in der Stadt und schwatzte mit einem Fremden, als ob sie nichts zu tun, keine Verpflichtungen zu erfüllen hätte.
Aber dieser Fremde hatte sie bemerkt, obwohl sie auf der gegenüberliegenden Seite der Straße ihre Äpfel feilgeboten hatte. Trotzdem erzählte sie ihm noch, daß ihr Mann im Krieg gefallen war, und hätte nie und nimmer erwartet, daß dieser Lieutenant-Colonel ihr wirklich einen Soldaten schicken würde, um die Decken abzuholen.
Es war auch kein Gemeiner, der am nächsten Tag auf die Farm geritten kam, sondern Lieutenant-Colonel Jerrod Ross höchstpersönlich, der Adjutant des Commissary General of Forage der amerikanischen Armee. Und während der folgenden Woche plauderten sie über alles mögliche miteinander, nur nicht viel, was die Vergangenheit anging. Meist drehte sich das Gespräch um die schwere Zeit, die sie alle gerade jetzt durchlebten, oder um die Zukunft dieser jungen Nation, die noch in den Kinderschuhen steckte, über die Hoffnungen, die jedermann dareinsetzte.
Jerrod Ross diente der amerikanischen Sache mit ganzer Überzeugung. Dennoch stellte er wiederholt Fragen nach dem Leben auf der Farm, über die Gegend, die Menschen, die hier lebten. Manche schöne Stunde verbrachten sie miteinander, gingen spazieren, saßen gemeinsam beim Essen, als wären sie eine kleine Familie.
Vom ersten Sehen an hatte sich Tim mit dem Lieutenant-Colonel angefreundet, als verbände sie beide ein inneres Band, Gelegentlich legte Ross die Uniformjacke ab und spaltete im Schweiße seines Angesichtes Holz. Dann wich Tim ihm nicht von der Seite. Obwohl in der Stadt aufgewachsen und der Arbeiten auf einer Farm völlig ungewohnt, legte Ross Hand an, als es darum ging, den Pumpenschwengel instand zu setzen. Jerrod Ross unterwies den Jungen auch, wie man einen Zaun aufrichtete, und hatte Beth einen Ledersessel ins Freie getragen, damit sie ihnen bei dieser Aufgabe zusehen, sie beide loben konnte.
Über den Kopf des Kindes hinweg tauschten sie lange und vielsagende Blicke, als wollten sie einander bekräftigen, was keiner auszusprechen wagte. Sie fühlten eine Zusammengehörigkeit, für die sie keine Worte fanden.
Als es Zeit war, zum letztenmal Abschied zu nehmen, begriff Beth, daß es schmerzte, sich von Jerrod Ross zu trennen, daß sie ihn zu verlieren fürchtete. Nicht weil sie ihren Mann verloren hatte. Die liebevolle Achtung, die Dankbarkeit, die sie für William McGowan empfunden hatte, war längst etwas Abgeschlossenes. Aber diesem Mann hier Lebewohl zu sagen, schmerzte sie so heftig wie nie etwas zuvor.
Es war schon dunkel, als Jerrod Ross Tim die Hand schüttelte und ihm einen jener spielerischen Befehle erteilte, nämlich ins Haus zu gehen, weil er sich von Mrs.
McGowan verabschieden wolle. Mit einem Blick tiefen Bedauerns legte der Kleine die Hand an einen imaginären Kappenrand und rannte hinein. Ross trat mit Beth zu seinem wartenden Pferd.
„Ich bin ein ungeübter Redner, wenn es nicht gerade um Befehle geht", gab er zu.
„Aber diese wenigen Tage, die viel zu schnell vergangen sind, haben mir wieder Kraft gegeben, diesen Krieg durchzustehen, diese Stunden mit Ihnen, nun . .."
Er redete wie gejagt, die Stimme klang ungewohnt rauh. Und er lüftete nicht nur den Hut oder faßte Beths Hand, wie er es bisher beim Gehen getan hatte. Nein, diesmal nahm er sie sanft in die Arme und zog sie an sich.
„Ich werde von dieser schönen Erinnerung zehren", begann er. „Doch ich werde wiederkommen, um Sie und den Jungen zu sehen." Damit beugte er sich zu ihr nieder und küßte sie auf den Mund.
Die Wirkung dieses Kusses war für Beth geradezu überwältigend. Sie kam sich vor, als wäre sie ein törichtes kleines Mädchen, das nie zuvor die Lippen eines Mannes auf den ihren gespürt hatte. Sie hatte sich in den vergangenen Tagen immer wieder vorzustellen versucht, wie es wohl sein könnte, wenn Jerrod Ross sie berührte, hatte sich eigentlich danach gesehnt, daß er sie küssen würde. Nun war es tatsächlich geschehen, so zärtlich und doch so verlangend, daß sich Beth kaum aufrecht halten konnte. Doch schnell ergab sie sich dem Hochgefühl, überließ sich dem Mann und den Empfindungen, die er in ihr ausgelöst hatte. Einmal vergaß sie Schmerz
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