Historical Weihnachtsband 1991
Sohn falsch? Dennoch erfüllte der Gedanke an Jerrods Anwesenheit zu Weihnachten sie mit inniger Freude. Warum mußten die Gefühle für diesen Mann bloß so verwirrend und widersprüchlich sein?
Tim füllte die Holzkiste in der Küche mit Holzscheiten und pfiff unentwegt den
„Yankee Doodle", wie er das bei Jerrod gehört hatte. Beth ging inzwischen hinauf und stieg auf den Dachboden. Über die enge kleine Treppe gelangte sie unter das Dach und stieß die Holzläden auf, um Licht und Luft einzulassen.
Mit berechtigtem Stolz betrachtete Beth die Speckseiten und Räucherschinken, bevor sie sich bückte und den gewölbten Deckel der alten Familientruhe hob.
Behutsam nahm sie ihre Weihnachtsschätze hervor. Da gab es sechs Kerzen, die unter der sommerlichen Hitze hier oben ein wenig krumm geworden waren, aber in diesem Jahr ihren Zweck dennoch erfüllen würden. Der wunderbare Duft ging freilich nie verloren. Vielleicht könnte sie sie auch noch einmal einschmelzen und aus dem Wachs eine einzige dicke Kerze ziehen?
Nun folgten die geschnitzten Krippenfiguren: Maria, Joseph, das Jesuskind und die Engel. Auch der Hirtenknabe mit seinen Schafen fehlte nicht. Ihr Schwiegervater hatte an langen Winterabenden gern geschnitzt. Mochte sich Tim auch nicht mehr an den Großvater erinnern, so hatte er doch dessen Fertigkeit im Umgang mit Holz und einem Messer geerbt.
Ganz unten fand Beth endlich auch das einzige, was sie an weihnachtlichen Erbstücken der eigenen Familie gerettet hatte: den gestickten Kissenbezug, den die Mutter eigens für dieses Fest gearbeitet hatte. Weiße Musselinquadrate wurden von grünen Samtstreifen zusammengehalten und stellten Familienszenen aus der Weihnachtszeit dar. Da war das Fest, bei dem sie eingeschneit gewesen waren. Das andere, bei dem Beths Schwester ein Schaukelpferd bekommen hatte. Und jenes, als der Vater aus
dem erzielten Gewinn seinen Töchtern ein Cembalo gekauft hatte. Nach dem Tode der Mutter hatte Beth als Älteste die Familientradition weitergeführt und noch ein Quadrat bestickt. Es handelte sich dabei um das Christenfest, bei dem die ganze Stadt mit Kerzen in allen Fenstern erstmals eine Festbeleuchtung vorzuweisen hatte.
Als Ironie des Schicksals mochte es scheinen, daß in eben jenem Jahr dann noch das Feuer ausbrach, dem ihr Heim und das Geschäft des Vaters zum Opfer fielen. Er selbst hatte in den Flammen den Tod gefunden, nachdem er versucht hatte, einige Kostbarkeiten zu retten. Die Nachbarn konnten die beiden Töchter nur mit Mühe davon abhalten, sich ihm nachzustürzen und ihn herauszuholen. Der Weihnachtskissenbezug entging der Zerstörung nur dadurch, daß Beth ihn der jüngeren Schwester um die Schultern geworfen hatte, als sie aus dem Haus flüchteten. Im folgenden Jahr hatte es keine neue Familienszene zu sticken gegeben.
Die Schwestern waren, trostlos und verzagt über den Verlust des geliebten Vaters, auf die Barmherzigkeit einiger Nachbarn angewiesen. Um diese Zeit wirkte William McGowan, ein Freund des Toten, wie ein Fels in der Brandung, als er Elizabeth bat, seine Frau zu werden, und ihr damit eine neue Heimat bot. Gern und dankbar nahm Beth den Antrag an. Wenig später verlobte sich auch ihre Schwester und zog mit ihrem Ehemann nach Philadelphia.
Beth war McGowans Gattin und die Herrin auf der großen Farm geworden. Aus der Abhängigkeit von ihrem Mann, aus der tiefen Achtung für ihn hatte sich langsam echte Zuneigung entwickelt. Und so hatte Beth auch wieder Szenen in den Weihnachtskissenbezug gestickt. Es waren Erinnerungen an glückliche Jahre im eigenen Heim als geliebte und verwöhnte Frau. Dann die Geburt des Sohnes und Erben. Danach noch das Fest, an dem der damals Dreijährige das Schäfchen Sheba bekommen hatte, für das er allein Sorge zu tragen hatte.
Beth McGowan glättete den feinen Bezug behutsam auf den Knien, strich zärtlich über die Stickereien. Noch gab es leere Quadrate. Nach Williams Tod auf dem Schlachtfeld hatte Beth es
nicht über sich gebracht, die Arbeit fortzusetzen. Eines Tages würde vielleicht doch wieder etwas Freudiges geschehen, dann . . .
„Mutter, bist du da oben?", rief Tim von unten herauf. „Ich möchte jetzt die Tiere füttern, und du willst, daß ich dir immer sage, wenn ich aus dem Haus gehe."
„Ja, ich komme", gab Beth zurück und mußte gleichzeitig an Jerrod Ross' letzte Worte beim Abschied denken. Wahrscheinlich hatte er recht, und sie machte sich wirklich zu viele Gedanken um Tims Wohlergehen,
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