Historical Weihnachtsband 1991
zu Lieutenant-Colonel Ross'
Leuten in der Stadt?" erkundigte sie sich beiläufig.
„Ross? Natürlich."
„Er ist da drüben bei der Brücke und wird gleich zurückkommen. Wenn Sie hier warten, ich . . ."
Der stämmige Kerl stieß sie unsanft ins Haus hinein. „Sie will uns nur was glauben machen, Leute. Hier ist kein Aas weit und
breit", grinste er seinen Kumpanen zu, und alle trampelten in die Küche.
„Nicht, lassen Sie das, draußen bleiben!" Beth war nicht bereit nachzugeben, sprach aber ziemlich ruhig, um Tim nicht aufmerksam werden zu lassen. Er sollte nicht heruntergerannt kommen und sich in die Nesseln setzen. Wenn er bloß aus dem Fenster geguckt und begriffen hätte, was sich hier unten abspielte! Dann hätte er heimlich zur Hintertür hinausschleichen und Jerrod zu Hilfe holen können. Denn diese Leute schienen zwar Amerikaner zu sein, gleichwohl. . .
„Aufhören", befahl sie, als die Männer sie weiter in den Raum drängten und sich auf die Pasteten stürzten, die auf dem Tisch zum Erkalten standen. Einer griff mit beiden Händen zu und schaufelte sich den Mund voll. Tim kam herbeigestürmt und wurde von einem der Kerle zurückgehalten, der ihm auch das Schnitzmesser aus der Faust riß und es einem anderen zuwarf. Der benutzte es, um große Stücke von dem Schinken abzusäbeln, die er unter der Meute verteilte. Sie verschlangen das Fleisch gleich gierigen Wölfen.
„Lassen Sie sofort meinen Sohn los und verschwinden Sie", schrie Beth empört.
Der stämmige Halunke schlug sie mitten ins Gesicht. Sie taumelte zurück und griff hastig nach der alten Flinte. Einer der sieben entwand Beth die Waffe und schmetterte sie gegen den steinernen Herdaufsatz. Dabei löste sich der Spiegel und zersplitterte auf dem Boden in tausend Scherben. Damit war das Zeichen für allgemeine Verwüstung gegeben. Die Bande, zerlumpt, schmutzig und tückisch, plünderte die Wandbretter, stopfte Lebensmittel und Geschirr wahllos in den Sack, den sie aus dem großen Tischtuch gemacht hatten. Es war wie ein Alptraum, und der Stämmige, offensichtlich der Anführer, hielt Beth und Tim mit einem Gewehr in Schach.
Beth drückte Tim an sich. Inzwischen rissen die Halunken die frischgebügelte Tischwäsche auseinander, um noch mehr Beutel zu haben. Keller und Dachboden wurden durchsucht, alles Genießbare eingehamstert.
„Nehmt alles mit, ob wir es fressen oder verkaufen können oder nicht", brüllte der Rädelsführer. „Holt Bettzeug aus dem anderen Zimmer! Ein bißchen fix, verstanden?"
Ein Bärtiger grinste. „Wo doch Weihnachten ist, da sind die Jungs scharf auf so'n Krimskrams." Er zeigte auf den Kissenbezug an der Wand, die Krippenfiguren.
„Nehmen wir auch mit, Rand, nicht?"
„Alles", befahl der mit Rand Angesprochene, und der andere riß lieblos das kostbare Familienerbstück herunter, warf die hölzernen Figuren hinein, während Beth nun doch in Tränen ausbrach vor Entsetzen und Verzweiflung.
„Bitte, nicht", hörte sie sich selber flehen. Dabei hätte sie ihnen am liebsten die Augen ausgekratzt. Sie hätte besser geschwiegen. Denn nun riß sich Tim los.
„Ich bin hier der Herr im Haus", schrie er, „und ich werde euch . . ."
Beth konnte nicht mehr verstehen, was der Junge noch sagen wollte. Jedenfalls erwies sich Jerrod Ross' Rat, Tim wie einen Erwachsenen zu behandeln, als äußerst verhängnisvoll. Der duckte sich nämlich unter dem Gewehr durch und sprang den stämmigen Anführer an. Der Kerl schüttelte Tim ab und ließ den Gewehrkolben hart gegen das Kinn des Jungen krachen. Er schwankte, stolperte und schlug mit dem Kopf gegen die Ecke des Eisenherdes. Dann lag Tim still und reglos da. Mit einem Aufschluchzen warf sich Beth neben ihrem Sohn auf die Knie.
„Nichts wie weg hier", hörte sie noch, als sie sich über Tim beugte. Sie sah kein Blut.
Tim lag inmitten der Glasscherben ausgestreckt und rührte sich nicht. War er tot?
Beth war so versteinert vor Entsetzen und grauenhafter Angst, daß ihr ganz entging, wie die Plünderer hinausstürmten, aufsaßen und das Weite suchten.
Tim McGowan war nicht tot. Er atmete. Schwach, doch deutlich sichtbar klopfte die Ader an seinem Hals. Seine Mutter und die Farm hatte er verteidigen wollen. Etwas wie Haß mischte sich in den jähen Zorn. Jerrod Ross hatte Tim überzeugt, daß er als Mann für sein Erbe einstehen und seine Mutter beschützen könne. Doch Tim war noch kein Erwachsener. Er war ein Kind, ein Junge, der selbst noch Schutz nötig hatte.
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