Historical Weihnachtsband 1991
Jerrod hatte versprochen, es werde keine Marodeure mehr geben. Warum mußte er auch all seine Leute mitnehmen, um die Engländer mit Straßensperren aufzuhalten, wenn die eigenen Landsleute einfach ins Haus dringen und plündern und morden konnten?
Beth verfluchte ihre Leichtgläubigkeit, die Vertrauensseligkeit, mit der sie angenommen hatte, es würde alles gut werden, sobald Jerrod und sie einander ihre Liebe gestanden hatten. Jerrod pflegte seine Versprechungen nicht einzulösen, das hätte Beth längst begreifen müssen.
„Tim? Tim! Bitte, Tim, wach auf! Tim!!!"
Weihnachten und die Zukunft lagen ebenso in Scherben und Trümmern wie die verwüstete Küche. Das hatten sie nun davon, der Junge und Beth, daß sie einem freundlichen Fremden blind vertraut hatten. Schutz und Sicherheit hatte er ihnen geben wollen und sie doch allein gelassen, ehe dieses Unglück über sie hereinbrach.
Genau so würde er auch im Frühling fortreiten, ohne danach zu fragen, wie es ihnen weiter ergehen mochte. Beth fühlte sich verraten und betrogen. Alles hatte sich gegen sie verschworen: diese brutalen Plünderer, die Amerikaner, selbst Weihnachten und vor allem Jerrod Ross. Wo war er denn nun, da sie ihn so dringend gebraucht hätte?
Behutsam hob sie Tim auf den Strohsack, befeuchtete ein Tuch und wischte das blasse Kindergesicht ab. Dann schob sie ein Lid hoch. Blicklos starrte das blaue Auge ins Leere. Panik stieg in Beth auf. Sie deckte Tim besser zu, rieb die Hände, die Gelenke. Sie mußte Hilfe haben und konnte doch den bewußtlosen Jungen nicht allein lassen. Warum wachte er bloß immer noch nicht auf? Man wußte, daß ein Kinnhaken, ein Schlag auf den Kopf einem Menschen vorübergehend das Bewußtsein nehmen konnte, aber doch nicht stundenlang.
Langsam nahm Beth auch die verheerte Umgebung wahr, den Zusammenbruch aller Weihnachtsträume, und ahnte, wie etwas Kaltes, Beängstigendes auf sie zukroch wie ein Unheil, das sich
anbahnte. Was freilich kümmerten sie jetzt Kleinigkeiten wie geraubtes Geschirr und Bettzeug, Festschmuck oder Lebensmittel? Es ging um Tim, um ihn allein.
Später dann drang Hufschlag herein. Gewohnheitsmäßig tastete Beth nach der alten Flinte und dachte erst nicht daran, daß die ja auch zerschmettert war. Beth taumelte auf die Füße und lief zur Tür.
Jerrod? Sie schwankte hinaus. Es hatte zu schneien begonnen. Dicht fielen große Flocken. Sie hatte es nicht einmal bemerkt. Wie lange war es wohl nun her, daß die Kerle weggeritten waren? Wie lange, daß Tim bewußtlos drinnen lag?
„Ist es nicht wunderschön mit dem frischen Schnee, so ruhig und friedlich?" rief Jerrod. „Beth, ich habe mir überlegt. . ." Er unterbrach sich, bemerkte erst jetzt erschrocken ihr verstörtes Gesicht, die ungewohnt drohende Haltung.
„Amerikaner sind hier gewesen, deine eigenen Leute, und haben alles geplündert, Essen, alles, ich weiß nicht. . ." Beth stieß diese Worte so atemlos hervor, als wäre sie meilenweit gerannt, und zog den entsetzten Jerrod mit sich ins Haus. Neben der reglosen Kindergestalt sank Jerrod auf die Knie.
„Aber er lebt, Beth!"
„Das weiß ich", schluchzte sie und konnte nur stoßweise, von krampfhaftem Weinen immer wieder unterbrochen, berichten, was vorgefallen war. Mit einem einzigen Blick nahm Jerrod die verwüstete Küche wahr.
„Wenn das wirklich einige meiner Leute waren, werden sie dafür hängen", schwor er. „Ich reite sofort, um den Lagerarzt zu holen. Er ist auch Washingtons Leibarzt.
Und wenn ich ihn an den Haaren herbeischleifen muß, er wird kommen."
Damit drückte er hastig Beths Hand und sprang auf. „Ich schicke dir auch einen Soldaten aus der Stadt hierher", rief er im Hinausstürmen.
Beth lief ihm nach bis an die Tür. Jerrod schwang sich in den Sattel und preschte dahin, noch bevor sie etwas hätte sagen können.
Was hätte sie ihm auch sagen sollen? Konnte sie ihn dafür tadeln, daß er Tim bewogen hatte, wie ein Mann zu handeln, wenn er selbst als Mann nicht imstande war, sie zu schützen? Er war keiner, der sein Wort zu halten vermochte, konnte seine Soldaten nicht abhalten, Obstbäume umzuhauen oder kleine Jungen bewußtlos zu schlagen und Witwen auszurauben. Einem solchen Mann durfte Beth nicht länger vertrauen. Wie gut; daß er ihr kein bindendes Versprechen gegeben oder von ihr gefordert hatte. Sie würde ihr Leben nicht in die Hand eines Menschen legen, der nicht begriffen hatte, daß Tim noch ein Kind war und Schutz brauchte. Es gab einfach
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