Historical Weihnachtsband 1992
Welt erblickten, war das Erstaunen groß. Cornelia ertappte auch jetzt noch gelegentlich ihre Mutter dabei, daß sie ihre großen, kräftigen Söhne mit einem Ausdruck in den Augen betrachtete, als ob sie sich wunderte, daß sie diese beiden zur Welt gebracht hatte.
„Rieche ich da Zimtkuchen?" erkundigte sich Jed hoffnungsvoll.
„Ja, aber du bekommst nur welchen, wenn du dich beeilst. Dein Bruder ist schon unten im Frühstückszimmer."
Eine weitere Ermunterung war nicht notwendig. Jed nahm mehrere Stufen auf einmal, während Cornelia ihm langsamer folgte. Als sie das Morgenzimmer erreichte, saßen ihre Brüder schon am Tisch. Trotz ihres Appetits vergaßen sie ihre guten Manieren nicht. Sie standen auf, sobald Cornelia hereinkam, und Jed schob ihr einen Stuhl zurecht.
„Nette Party gestern", bemerkte Ted nach einer Weile. „Es war anständig von Mr. Withers, uns auch einzuladen."
„Er kannte Vater gut und hat sich auch uns als guter Freund erwiesen", erwiderte Cornelia. „Außerdem seid ihr inzwischen alt genug, um euch unter die zivilisierte Gesellschaft zu mischen", fügte sie lächelnd hinzu.
Jed warf ihr einen mißbilligenden Blick zu. Er war der ernsthaftere von beiden und daher mehr auf seine Würde bedacht. „Natürlich sind wir das", betonte er. „Wir tragen doch keine kurzen Hosen mehr."
„Es gibt Burschen in unserem Alter, die im Westen bei der Kavallerie kämpfen", erklärte Ted, dem man anmerkte, daß er gern dabeigewesen wäre.
„Ihr werdet das Haus bald genug verlassen", meinte Cornelia nachdenklich. Die beiden würden im nächsten Jahr nach Princeton gehen. Ohne sie würde das Haus sehr ruhig werden.
Jed spießte mit der Gabel ein Stück Wurst auf. „Wir haben doch ein paar Tage frei", meinte er. „Da dachten wir, wir machen einen Ausflug zur Harlem Lane. Magst du nicht mitkommen?"
„Um diese Jahreszeit?" fragte Cornelia. Die Harlem Lane, eine breite Straße, die vom Central Park aus nach Norden führte, gefiel ihr besonders gut. Dort, in der Nähe des Parks, gab es einige Restaurants, von deren breiten Veranden aus man das bunte Treiben auf der Harlem Lane beobachten konnte.
Hier pflegte einiges los zu sein. Reiche New Yorker trafen sich hier, um mit ihren eleganten Equipagen Rennen über die Wiesen und Weiden zu veranstalten, die sich über den oberen Teil von Manhattan Island erstreckten. Die Lane reichte bis zur 168th Street, die die alte Bloomingdale Road, besser bekannt als Broadway, kreuzte.
Daß die Straße numeriert war, war irreführend. Sie existierte nämlich nur im Kopf von Planern und Straßenkartenproduzenten, die bereits alle geplanten Straßen für die ganze Insel von der Bowery bis zum Harlem River eingezeichnet hatten.
„Es schneit nur noch ganz wenig", stellte Ted bei einem Blick aus dem Fenster fest.
„Sogar ein Stückchen blauer Himmel ist schon zu sehen. Genau der richtige Tag für einen Ausflug aufs Land."
Cornelia zögerte. Sosehr sie die Weihnachtssaison liebte, sosehr haßte sie auch das Gedränge auf den Straßen. Die vielen Leute, Pferde, Kutschen und Karren bereiteten ihr Kopfschmerzen. Ein Tag auf dem Land würde ihr guttun.
„Ich brauche nur eine Minute", erklärte sie und stand auf.
Ihre Brüder grinsten. Sie wußten, daß es eher eine halbe Stunde dauerte, bis sie fertig war. Sogar ihre vernünftige und praktische Schwester benötigte viel Zeit, wenn sie in der Öffentlichkeit passend angezogen erscheinen wollte.
Als Cornelia zurückkehrte, schneite es nicht mehr, und der Himmel hatte sich aufgeklärt. Sie trug ein einfaches goldgelbes Wollkleid mit hohem Kragen, Puffärmeln und einem der turnürelosen Röcke, die so viel bequemer waren als die noch vor kurzem modernen. Darüber zog sie einen blauen Mantel, dessen Kragen und Manschetten aus Samt bestanden. Ihr Haar war hochfrisiert und teilweise von einem kecken schwarzen Schlapphut verdeckt, den schwarze Federn zierten. Die Hände steckten in einem Nerzmuff, einem letztjährigen Weihnachtsgeschenk ihrer Brüder. Cornelias Augen blitzten, ihre Wangen waren rosig angehaucht.
Die jungen Männer erwarteten sie bereits. Sie deuteten eine Verbeugung an, bevor sie ihr die Arme boten. Gemeinsam verließen sie das Haus, nachdem Cornelia Sophia zugerufen hatte, sie möge ihre Mutter informieren, wohin sie gingen.
In einem Mietstall, zwei Häuserblöcke entfernt, mieteten sie eine Kutsche und zwei Pferde. Ted nahm die Zügel, und sie fuhren los. Entlang der Fifth Avenue passierten sie die
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