Historical Weihnachtsband 1992
gewählt hätte, um Miss Neville zu beschreiben. Wenn er sich allerdings an ihre Küsse erinnerte, war die Bezeichnung vielleicht doch nicht so unzutreffend.
„In welcher Beziehung?" wollte er wissen.
Jonathan antwortete nicht sofort. Er lehnte sich in seinen Sessel zurück und drehte das Kristallglas in den Fingern herum. Äußerlich wirkte er wie ein Mann, der mit sich und der Welt im Einklang war. Dieser Eindruck täuschte. Innerlich kämpfte er mit seinem Gewissen. Sollte er handeln, wie es Cornelia sicherlich wünschen würde, und Stillschweigen bewahren, oder seinem Gefühl folgen und — der Himmel sei ihm gnädig — Amor spielen?
Die Versuchung war zu groß. Nachdem er sich mit einem Schluck Portwein gestärkt hatte, fing er zu erzählen an:
„Als William Neville starb, blieb die Familie in einer äußerst schwierigen finanziellen Lage zurück. Man könnte ohne Übertreibung behaupten, daß die gesamte Existenz der Nevilles bedroht war."
„Und da haben . . ."
Peter erwartete nun, Jonathan würde zugeben, daß er der Familie geholfen habe.
Auf das, was er statt dessen hörte, war Peter völlig unvorbereitet.
„Die Nevilles haben ihren derzeitigen Wohlstand ganz allein Cornelia zu verdanken.
Wäre sie nicht hilfreich eingesprungen, wer weiß, was aus ihnen geworden wäre."
Peter, vollkommen verwirrt, versuchte sich vorzustellen, auf welche Weise sie das geschafft hatte. Er wußte, daß es kaum Möglichkeiten für Frauen gab, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Und nur wenige davon galten für Mitglieder seiner Gesellschaftsklasse, wenngleich sie unverschuldet in eine Notlage geraten waren, als passend. Frauen konnten zum Beispiel Gouvernanten oder Gesellschafterinnen werden, doch weder die eine noch die andere Stellung brachte mehr als ein Taschengeld ein. Natürlich gab es noch eine andere Alternative, aber der Gedanke, Cornelia könnte . . .
„Was genau wollen Sie mir eigentlich sagen, Jonathan?"
Der ältere Mann schüttelte den Kopf. „Nicht das, was Ihnen anscheinend gerade durch den Sinn gegangen ist. Das können Sie doch nicht wirklich glauben."
„Natürlich nicht. Reden Sie weiter."
„Ich fühle mich durch ein Versprechen gebunden."
„Wie meinen Sie das?"
„Cornelia hat mir ihr Vertrauen unter gewissen Bedingungen geschenkt. Und ich werde sie nicht enttäuschen."
„Das heißt, daß Sie mir weiter nichts mitteilen wollen", sagte Peter gefahrlich ruhig.
„Es bedeutet, daß Sie alles andere selbst herausfinden müssen."
Der Verleger stand auf, ohne Peters Reaktion abzuwarten, ging zu dem Regal, das hinter seinem Schreibtisch stand, und holte ein halbes Dutzend Taschenbücher heraus.
„Ihre ganzen Schwierigkeiten beruhen darauf, daß sie das Leben zu ernst nehmen, Peter", bemerkte Jonathan. „Das ist angesichts der Verantwortung, die Sie tragen müssen, auch kaum verwunderlich. Vielleicht täte es Ihnen gut, sich einmal bei leichter Lektüre zu entspannen."
Peter warf einen Blick auf die Bücher. Eine Detektivgeschichte von Reginald Wells, ein Abenteuerroman von Paddy O'Shea, sogar eine dieser unerträglichen Romanzen von Luciana Montrachet waren darunter. „Damit?" fragte er spöttisch.
Jonathan nickte. „Es wird Ihnen nicht schaden, die Bücher zu lesen, vielleicht finden Sie die eine oder andere Geschichte sogar erbaulich."
Da sich der Verleger nicht dazu bewegen ließ, sich ausführlicher zu äußern, verließ Peter Jonathans Büro eine halbe Stunde später kaum schlauer, als er es betreten hatte. Dafür trug er reichlich Lesestoff unter dem Arm. Als er unterwegs zufällig an einem Mülleimer vorbeikam, überlegte er sekundenlang, ob er die Bücher nicht einfach hineinwerfen sollte. Er tat es nur aus einem Grunde nicht: Es widerstrebte ihm, Bücher wie Unrat zu behandeln, selbst wenn sie seiner Ansicht nach noch so schlecht waren. Seine Sekretärin fiel ihm ein, und er nahm sich vor, Mrs. Everard zu fragen, ob sie die Romane haben wollte.
Zufällig war seine Sekretärin an diesem Nachmittag so beschäftigt, daß sich keine Gelegenheit ergab, ihr die Bücher anzubieten. Sie lagen daher noch auf seinem Schreibtisch, als er nach Hause gehen wollte. Bei ihrem Anblick verzog er den Mund und wunderte sich zum wiederholtenmal, was sich Jonathan bei der Sache wohl gedacht haben mochte. Er war zu ihm gegangen, weil er sich im Fall Cornelia Hilfe erwartete. Statt dessen hatte Jonathan . . .
Jonathan verlegte Bücher, auch die, die er Peter gegeben hatte. Ein schneller
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