Historical Weihnachtsband 1992
aller Welt war er Harrys Einladung gefolgt? Er blickte zu den Tischen hinüber, an denen einige Gentlemen beim Kartenspiel saßen. Es interessierte ihn nicht, sich daran zu beteiligen, ebensowenig wie am Tanz im Ballsaal.
Er war nur zu dem Zweck hier, um nicht mit dem Treiben des geheimnisvollen Diebes in Verbindung gebracht zu werden. Wäre er dem geselligen Treiben des englischen Adels ferngeblieben, hätte er bestimmt Verdacht erregt. Früher oder später mußte es auffallen, daß immer dann, wenn er bei einem gesellschaftlichen Anlaß fehlte, Beutezüge stattfanden.
Das war jedoch nicht der einzige Grund, weshalb er gekommen war. Widerstrebend gestand er sich ein, daß er den Abend nicht zu Hause verbringen wollte, allein gelassen mit den Gedanken an Blair Duncan. Zum Teufel mit ihr! Nach dem Besuch in Duncan House träumte er nicht mehr von dem entzückenden, unschuldigen Geschöpf, an das er sich erinnert hatte. Er sehnte sich nach der sinnlichen jungen Frau, deren Lippen er erst vor kurzem so leidenschaftlich geküßt hatte. Ganz gleich wie sehr er sie zu vergessen trachtete, ihr Zauber hatte ihn derart in Bann geschlagen, daß er sich vor Verlangen nach ihr fast verzehrte.
Vielleicht war ihr Verhalten aber auch verständlich. Er hatte sich keineswegs wie ein Gentleman benommen, und bei der Erinnerung an den Kuß, den er Blair gestohlen hatte, empfand er weder Beschämung noch Gewissensbisse. Die Begierde, die ihn überfallen hatte, als er Blairs Lippen unter seinen spürte, hatte alle guten Manieren und bürgerlichen Moralvorstellungen verdrängt. Sein Verlangen hatte sich nicht bändigen lassen und Befriedigung verlangt. War er nicht schon seit geraumer Zeit ein Dieb? Nein, was er tat, geschah nur, um anderen Menschen das wiederzugeben, was man ihnen zuvor genommen hatte. Er bereute sein Handeln nicht.
Anfangs hatte er, in die Highlands zurückgekehrt, der Bevölkerung das schwere Los durch die Wohltaten erleichtern wollen. Nur allzu schnell hatte er einsehen müssen, daß die Leute von Glenmuir ihn und sein Geld nicht wollten. So war ihm der Einfall gekommen, unerkannt Gutes zu tun und praktische Geschenke zu verteilen, Dinge, welche die Menschen bitter nötig hatten. Die unerklärliche Großzügigkeit wäre jedoch unweigerlich auf ihn zurückgefallen, da er allein oft in der Gegend weilte und sich derlei Gaben leisten konnte. Die starrsinnigen Hochlandbewohner hätten sich bestimmt geweigert, etwas von ihm anzunehmen. Aus diesem Grund war er darauf verfallen, einen Diebstahl zu melden, ehe die unerwarteten Spenden zum ersten Male vor den Türen der Ärmsten lagen. Er wußte, man würde seinen Schaden mit den Geschenken in Verbindung bringen und sich doppelt darüber freuen. Natürlich hätte er die ihm durch seine Menschenfreundlichkeit entstehenden Kosten mit seinen Vorräten ausgleichen können, aber der Zorn hatte ihn dazu getrieben, auch von anderen zu nehmen. Auf die Dauer schien es unerträglich, tatenlos zuzusehen, wie seine Landsleute die Einheimischen ausnutzten und ungestraft davonkamen.
Denn die Engländer waren nichts anderes als Räuber, die allerdings das Gesetz auf ihrer Seite hatten. So hatte er begonnen, ausgleichende Gerechtigkeit zu üben.
Die Uhr schlug zehnmal, und er beschloß, sich unter die Gäste im Ballsaal zu mischen. Bald würde man zu Tisch gehen, und danach konnte er sich zurückziehen.
Die Erkältung bot ihm eine gute Ausrede zu verfrühtem Aufbruch. So lästig das Niesen auch war, er würde sich nicht abhalten lassen, unterwegs noch einen heimlichen Halt einzulegen, dessen Folgen einer der Anwesenden später sehr bedauern würde. Mit grimmigem Lächeln stand er auf und stellte das leere Glas auf ein Tischchen. Wenigstens würde der Abend nicht ganz spannungslos verlaufen, und nach der Heimkehr war Cameron gewiß zu müde, über Blair Duncan nachzudenken.
Nach dem inneren Aufruhr, in den ihn die letzte Begegnung mit ihr versetzt hatte, empfand er kein Verlangen, sie jemals wiederzusehen.
Cameron, Earl of Lindsay, war kaum im Ballsaal, noch nicht weit gekommen, als er Miss Duncan sah. Inmitten der bläßlichen englischen Damen wirkte sie wie das pralle Leben. Ihr Anblick weckte seinen Zorn. Sie hatte jede seiner Einladungen ausgeschlagen, alle Bitten ihn zu besuchen, abgelehnt, aber Harrys Gesellschaft beehrte sie mit ihrer Anwesenheit, obwohl sie seinem Freund erst ein einziges Mal begegnet war.
Eifersüchtig geworden, fragte sich Cameron, ob Harry vielleicht von
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