Historical Weihnachtsband 1992
hatte. Das beharrliche Schweigen des alten Robbie trug nicht dazu bei, ihr das Herz zu erleichtern. Selbst wenn er gesprächig war, pflegte er sich auf einige Worte zu beschränken. Heute abend jedoch entlockte ihm jeder Versuch, ihn in eine Unterhaltung zu verwickeln, nicht mehr als ein unwirsches Murmeln.
Vielleicht hatten er und Mrs. Brown recht, und Blair hätte nicht fahren sollen.
Jedenfalls war es jetzt zu spät, die Meinung zu ändern und nach Duncan House zurückzukehren. Schon hatte die kleine, schäbige Kutsche Haverbrooks Jagdgebiet hinter sich gelassen und bog in die Auffahrt zum Herrenhaus ein.
Dutzende von Laternen beleuchteten den Kiesweg. Das Gebäude war kein Jagdsitz, wie Lord Haverbrook es gerne nannte, sondern eher ein Schlößchen. Robbie half Miss Duncan aus dem Wagen, und ein Diener geleitete sie die geschwungene Freitreppe hinauf. Sie redete sich ein, nur die frostige Dezembernacht sei schuld, daß sie fröstelte. Am liebsten hätte sie die Röcke gerafft und die Flucht ergriffen, zurück in die Sicherheit ihrer Kutsche. Aber es war töricht, vor der Begegnung mit den Engländern zu zittern, und entschlossen zwang sie sich zum Weitergehen. Es gab nichts, vor dem sie sich fürchten oder für das sie sich schämen mußte.
Mit gestrafften Schultern und hocherhobenen Hauptes betrat sie das Haus, das Lord Haverbrook sich widerrechtlich angeeignet hatte. Sie bewies die gleiche Tapferkeit, wie sie vor Generationen ihre Ahnen beim Marsch in die Schlacht von Culloden gezeigt hatten.
Ein Butler nahm Miss Duncan den Umhang ab. Beim Eintritt in den großartigen Ballsaal machte der Glanz sie betroffen. Hier war alles anders als in den einfachen Häusern der Menschen, die in Glenmuir geboren und aufgewachsen waren. Im Kamin loderte ein prasselndes Feuer, und riesige Kristallkandelaber tauchten den Raum in strahlende Helle. Der Unterschied zwischen dieser Pracht und der düsteren Atmosphäre von Duncan House schmerzte. Die kostspielige Ausstattung verriet Reichtum und Geschmack. Immergrüne Girlanden und Stechpalmzweige waren unter der Decke befestigt. Das Schönste stand in der entferntesten Ecke des Saales und verschlug Blair den Atem.
Es war ein hoher, gleichmäßig gewachsener und herrlich geschmückter Tannenbaum. Harzduft wehte herüber, und auf den hin und her schwingenden Zweigen brannten zahllose Kerzen. Bunt und glitzernd, weckte der Baum das in jedem Erwachsenen schlummernde Kind und Verlangen nach Zauber und Märchen, das allen Menschen gemeinsam ist.
Blair achtete nicht auf die neugierigen Blicke der Umstehenden, ging zum Weihnachtsbaum und betrachtete den Schmuck. Es gab blitzende künstliche Tannenzapfen in allen Schattierungen, vergoldete Nüsse, Marzipanobst und schwebende Engel. Bisher hatte sie nie etwas so Entzückendes gesehen, und es fiel ihr schwer, keine Ergriffenheit zu zeigen, als der Earl of Haverbrook sie begrüßen kam.
„Meine liebe Miss Duncan, ich freue mich, daß Sie hier sind! Ich sehe, Sie bewundern den Weihnachtsbaum. Das ist jetzt in England große Mode, seit der Prinzgemahl solche Bäume im Palast hat aufstellen lassen. Eigentlich handelt es sich um einen deutschen Brauch, aber dennoch ist er wirklich hübsch, finden Sie nicht?
Aber ich will Sie nicht mit Beschlag belegen. Kommen Sie zu den anderen. Jeder brennt darauf, Sie kennenzulernen."
Miss Duncan nahm seinen Arm und senkte die langen Wimpern. Das wirkte zurückhaltend und anmutig, gab ihr jedoch die Gelegenheit, verstohlen die Anwesenden zu mustern. Erleichtert stellte sie fest, daß der Earl of Lindsay tatsächlich nicht da war. Die anderen Gäste waren ihr fremd. Sobald Lord Haverbrook die allgemeine Vorstellungszeremonie beendet hatte und Miss Duncan bei einer kleinen Gruppe ließ, fiel es ihr doch schwer, darüber hinwegzusehen, daß sie hier als Ausländerin galt.
Die Engländer benahmen sich zwar höflich, aber es war offensichtlich, daß sie Blair für eine Art Sehenswürdigkeit zu halten schienen. Die schottische Aussprache betonend, antwortete sie auf die Frage eines Edelmannes und war boshaft entschlossen, der ihr zugedachten Aufgabe als schmückendes Beiwerk gerecht zu werden.
★
Cameron Montgomery, Earl of Lindsay, saß, die langen Beine gemütlich ausgestreckt, in einem großen Armsessel vor dem Kamin und trank hin und wieder einen Schluck Whisky. Er machte sich wenig aus Abendgesellschaften und langweilte sich. Es wäre besser gewesen, mit der Erkältung daheim zu bleiben. Warum in
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