Historical Weihnachtsband 1992
jeder vergangene Tag gebracht hatte. Der feste Glaube an das Bleibende im Leben war tief in Blairs Seele verankert. Blair würde dafür sorgen, daß die Festtage in Glenmuir durch nichts gestört wurden, auch nicht durch die verhaßte Gegenwart der Fremden, zu denen ihrer Ansicht nach auch Lord Lindsay gehörte.
Entschlossen und zielstrebig trat sie den Heimweg an und ging mit langen Schritten durch das hohe, feuchte Gras. Jetzt war die Zeit der Hoffnung. Auch für Glenmuir konnte manches besser werden, wenn Lord Haverbrook sein Versprechen hielt und einige Leute aus dem Dorf in Dienst genommen wurden. Und Blair hatte die Weihnachtskörbe, wenn sie, drei Tage vor dem Fest, auch noch nicht alle gefüllt und geschmückt hatte. Mochte der Inhalt kärglicher sein, als sie es sich wünschte, so sollten ihnen wenigstens Stechpalmzweige und grüne Reiser ein festlich frohes Aussehen geben.
Seit Jahren hatten die Geschenke, mit denen sie das Los der Ärmeren zu lindern versuchte, auch ihr Freude und Zufriedenheit gebracht. Jeder im Dorf wußte, daß sie es war, die die Körbe packte. Zudem bereicherten von einem Unbekannten auf ihre Schwelle gelegte Gaben seit gestern ihre Schätze, darunter ein großer Sack mit Äpfeln. Doch alle Anstrengungen würden ihr wenig nützen. Der geheimnisvolle Wohltäter würde sie mühelos übertreffen. Blairs Zuwendungen wurden von den Menschen in Glenmuir gern entgegengenommen, die des großzügigen Spenders dagegen bereiteten ihnen freudige Überraschung.
Blair fragte sich, ob er auch in diesem Jahr wieder in Erscheinung treten würde.
Wollte sie überhaupt, daß er wiederkam? In Wahrheit lenkten seine reichlichen Spenden etwas von ihren bescheideneren ab. Aber in den vergangenen drei Jahren hatte er oft notwendige Dinge geschenkt. Wie konnte sie über sein Eingreifen ungehalten sein, besonders im Hinblick auf die Bedürfnisse der Leute?
Unwillig verdrängte sie die quälenden Fragen. Jeder verdiente Nächstenliebe, ganz gleich, aus welcher Quelle sie kam, und keinem durfte sie verweigert werden.
Trotzdem vermißte Blair in diesem Jahr die herzliche Mitfreude, die sie sonst empfunden hatte. Es war keinesfalls allein die Schuld des unbekannten Wohltäters, daß sie diesmal das Besorgen der Geschenke, die Herstellung der Marmelade, selbst das Bewußtsein, ihr weniges Hab und Gut zu teilen, eher als unliebsame Verpflichtung und nicht als fröhliches Unterfangen empfand. Wahrscheinlich war das auf das unerwartete Erscheinen Lord Lindsays zurückzuführen, der sie zu verfolgen schien, wo immer sie sich befand, sei es auf der Straße von Glenmuir oder in der eigenen Küche. Nie zuvor hatte der Earl ihr so hartnäckig nachgestellt und ihr den Hof gemacht, trotz ihrer deutlich zur Schau getragenen Abneigung.
In der vergangenen Nacht hatte Blair sich endlich von seiner beunruhigenden Gegenwart verschont geglaubt. Selbst wenn sie sich einredete, seinem Charme gegenüber unempfindlich zu sein, ließ sich nicht abstreiten, daß er unvermindert galant war und sie ihn beeindruckend attraktiv fand, ungeachtet seines Desinteresses an seinem schottischen Erbe. Sie wischte sich die Nebeltropfen vom Gesicht. Schade, daß seine Mutter ein Einzelkind gewesen war, denn sonst hätte gewiß noch einer aus dem Clan der Connerys in Glenmuir gelebt. Die früheren Pächter wären nicht ans andere Ende der Welt vertrieben worden, nur weil Lord Lindsay falsche Ansichten vertrat. Neu-Kaledonien lag auf der anderen Seite der Erdkugel, so wenigstens sagte Pater MacKenzie, und doch hatte es die MacLeods dorthin verschlagen, weil die Fischerei in den Sutherlands die Familie nicht mehr ernährte. Zum Satan mit allen Engländern, insbesondere aber mit dem Earl of Lindsay! Aber für ihn, diesen hitzigen Teufel, war vermutlich selbst das wildeste Höllenfeuer nicht heiß genug!
Mit finsterer Miene stapfte Blair dem Hause zu. Sie kümmerte weder die feuchte Kälte des Dezembernachmittags, noch die dunklen Wolken, die sich am Himmel über ihr zusammenballten. Ehrliche Empörung brachte ihr Blut in Wallung, sobald sie an die englischen Eindringlinge dachte und der Gedanke, daß Lord Lindsay unweigerlich einem düsteren Schicksal entgegensah, bereitete ihr das größte Vergnügen, während sie in den dichter werdenden Nebel wanderte.
Plötzlich sah Blair den Earl of Lindsay vor sich. Er ritt einen stattlichen Grauschimmel und streckte den Arm aus, als wolle er sie einfach vor sich in den Sattel heben.
„Was wollen Sie von
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