Historical Weihnachtsband 1992
den Blick durch den einst verbotenen Raum schweifen. Es lag auf der Hand, daß jemand ihn peinlich in Ordnung hielt. In den vergangenen zwölf Jahren schien sich kaum etwas auf Lindsay Hall verändert zu haben, alles war noch an seinem Platz. Auf dem Kaminsims standen zierliche Porzellanfigürchen; ein feingewebtes Tuch bedeckte den Tisch; an den Fenstern hingen Spitzenvorhänge, und vor dem Kamin schützte ein hübscher Ofenschirm vor Funkenflug. Aber inzwischen war eine lange Zeit vergangen und viel zuviel geschehen, als daß Blair sich hier hätte wohl fühlen mögen.
„Miss Duncan, ich bin Mrs. Pearson. Kommen Sie bitte mit!" Die Haushälterin, eine streng blickende Engländerin, war eilig eingetreten, und ihre mißbilligende Miene sprach Bände. Sie
war so schncll wieder zur Tür hinaus, daß Blair ihr hastig folgen mußte. Eine feuchte Spur blieb hinter ihr auf der breiten Treppe zur zweiten Etage zurück.
„Das einzige geheizte Badezimmer befindet sich in den Gemächern Seiner Lordschaft", erklärte Mrs. Pearson, „aber er wollte, daß sie es benützen. Ich habe trockene Kleider für Sie auf das Bett gelegt, kann allerdings nicht versprechen, daß sie Ihnen passen werden. Aber in der Zwischenzeit werde ich mich um Ihre kümmern. Wärmen Sie sich erst richtig auf, bevor Sie hinunterkommen. Dann werde ich ein Mahl für Sie bereithalten."
„Machen Sie um Gottes willen keine Umstände."
„Genießen Sie ruhig die Gastfreundschaft Seiner Lordschaft. Er hat selten genug Gäste. Und geben Sie mir bitte die nassen Sachen. Sie müssen wissen, abgesehen von großen Gesellschaften sind Sie der erste Gast. Vielleicht ist das ein gutes Zeichen."
Oder auch nicht, dachte Blair, und hätte beim besten Willen nicht sagen können, welche Gefühle sie bewegten, daß sie sich so unvermutet in diesem Haus wiederfand. Noch dazu in diesem Zustand, ausgezogen und im Begriff, in die Badewanne zu steigen. Eigentlich hatte Cameron sich ihr gegenüber in der vergangenen Stunde überaus ritterlich benommen, als er sie vom Betreten der baufälligen Hütte abhielt. War es Mitgefühl gewesen, oder regte sich das lange schlummernde Conneryerbe wieder in ihm? Nein, sie wollte sich lieber keinen falschen Hoffnungen hingeben. Dagegen wehrte sich ihr realistischer Sinn. Doch das Herz riet ihr, keine voreilige Antwort zu finden.
Sie stieg in die Wanne und verbannte jeden Gedanken, genoß nur noch das Vergnügen des heißen, zart nach Lavendel duftenden und die verkrampften Muskeln entspannenden Wassers. Kälte und Schmerz schwanden und Blair hatte das Gefühl, endlich wieder eine Frau zu sein. Sie hatte sich seit langer Zeit nicht mehr so verwöhnt und nun beinahe ein schlechtes Gewissen, den Luxus des Bades zu genießen. Sie tauchte tief ein in die Wärme und den köstlichen Duft. Mit der parfümierten Seife, die Mrs. Pcarson ihr hingelegt hatte, wusch sie das offene Haar.
Unvermittelt wich die wohltuende Trägheit, und ein höchst ungebetener Gedanke zuckte Blair durch den Kopf. Sie setzte sich auf und fragte sich, wie es kam, daß es in diesem von einem Mann bewohnten Haus Parfüm und Toilettenseife gab? Hatte Cameron etwa eine Geliebte? Soweit Blair gehört hatte, war dergleichen in London an der Tagesordnung. Diese kostspieligen Dinge stammten gewiß nicht aus dem Besitz der Haushälterin.
Es war totenstill, und plötzlich hörte Blair von weitem Mrs. Pearsons Stimme.
Vermutlich lag die Küche unter dem Badezimmer.
„Sie ist wirklich entzückend, Mylord, wirklich. Ich fürchte nur, daß ihr Miss Eloises Kleider nicht richtig passen."
Miss Eloise! Wer in aller Welt war das? Cameron hatte keine Geschwister, und der Name seiner toten Mutter war Mary. Wie konnte er es wagen, Blair Kleider anzubieten, die einer anderen gehörten, und dann noch annehmen, sie würde sie tragen? Die anfänglichen Befürchtungen waren also durchaus berechtigt gewesen.
Den Kindheitsgespielen gab es nicht mehr, und der Cameron von heute war ein Schuft und taugte nichts. Sie hörte nicht, was er antwortete, und stieg wütend aus dem Bad, fest entschlossen, das Haus so schnell wie möglich zu verlassen. Aber nackt konnte sie schließlich nicht hinaus. Erbost wickelte sie sich in ein großes Handtuch und ging empört in das angrenzende Zimmer, um vor dem Kamin das Haar zu trocknen. Auf keinen Fall würde sie das zartgrüne Kleid anziehen, das einladend auf dem Bett ausgebreitet lag. Mit verächtlicher Bewegung knüllte sie es zusammen.
Wie weich es sich
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