Historical Weihnachtsband 1992
uns gestohlen hat, kostete sie keinen Penny."
„Und wer hätte jemals eine Frau solcher Vermessenheit im Namen der Nächstenliebe verdächtigen wollen?" fragte Lord Fairfax, dessen Äpfel die Weihnachtskörbe bereichert hatten.
„Ich glaube kaum, daß Miss Duncan . . ." begann Lord Haverbrook.
„Gentlemen", unterbrach sie ihn ruhig, „gestatten Sie mir, auch etwas zu sagen!
Was um Himmels willen habe ich Schreckliches getan, daß Sie sich dermaßen erregen? Es ist mir
bisher noch nie passiert, daß ich mit einem Spaziergang am Heiligen Abend solche Bestürzung ausgelöst hätte." Sie bemühte sich, leise zu sprechen, um nicht zu zeigen, daß sie ganz außer Atem war. In eben die Falle gegangen, vor der sie Cameron bewahren wollte, blieb ihr keine andere Wahl als vorzugeben, daß sie keine Ahnung von den verräterischen Dingen in der Hütte hatte. Sie schickte ein Dankgebet zum Himmel, daß sie Lord Haverbrooks Uhr zu Haus gelassen hatte.
Hätte man das kostbare Stück bei ihr gefunden, wäre sie erst recht in Verdacht geraten. „Bin ich vielleicht in eine Geheimversammlung englischer Ehemänner geraten, deren Frauen nicht wissen dürfen, was hier vorgeht? Wenn ja, schwöre ich Ihnen von Herzen gern zu schweigen und ziehe mich zurück."
„Nicht so hastig, Miss Duncan! Setzen Sie sich bitte dort auf die Kiste und entkräften Sie unseren Argwohn, daß Sie der Räuber sind, der jedes Jahr um die Weihnachtszeit unsere Vorräte geplündert hat."
„Ich?" Die absurde Vorstellung brachte Blair zum Lachen. Nicht, daß es ihr kein Vergnügen bereitet hätte, die Lagerräume der wichtigtuerischen Narren auszuräumen! Aber wie konnten sie annehmen, sie sei so dumm, ihre Beute dann offen zu verteilen? „Gentlemen, nehmen Sie doch Vernunft an! Seit einem halben Jahrhundert füllen wir Duncans Weihnachtskörbe für Pächter und Nachbarn. Die Diebstähle haben dagegen erst vor drei Jahren begonnen."
„Das ist richtig. Aber früher waren die Zeiten nicht ganz so schlecht", hielt Lord Fairfax dagegen. „Außerdem haben wir von Ihnen gehört, wie ungerecht Sie es finden, daß wir uns schottischen Besitz aneignen."
„Es ist eine Ungerechtigkeit! Unbedeutende Diebstähle können das auch nicht mehr ändern!"
„Allerdings, aber sie helfen, Ihnen und Ihresgleichen das Leben zu erleichtern", warf Mr. Enright ein.
„Mylord", wandte Miss Duncan sich an den Earl, „Sie haben bemerkt, in welch jämmerlichem Zustand mein Haus ist. Man
sollte meinen, daß ich dann zur Ausbesserung der Schäden wenigstens das Faß Nägel für mich behalten hätte, das aus Ihrem Schuppen entwendet wurde. Das heißt, wenn ich tatsächlich die Diebin wäre."
Das klang durchaus einleuchtend. Lord Haverbrook fühlte sich unbehaglich.
Natürlich ging es ihm nahe, Miss Duncan in die Enge getrieben zu sehen, doch wenn sie tatsächlich schuldig war, mußte er dafür sorgen, daß die Gerechtigkeit ihren Lauf nahm. „Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Aus welchem Grund sollte eine junge Dame hier herkommen, noch dazu mitten in der Nacht, wenn sie nicht in verbrecherische Machenschaften verstrickt ist."
„Genau, Miss Duncan", höhnte Mr. Enright. „Geben Sie sich erst gar nicht die Mühe, den Zweck Ihres Hierseins zu leugnen. Sie wollten noch eine schottische Familie mit einem Teil der Beute beglücken, bevor es Tag wird. Ich habe sogar meine Schafe wiedergefunden. Sie sind draußen unter den Bäumen angebunden."
„Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich keineswegs diese Absicht hatte. Ich wollte nur frische Luft genießen und den sternklaren Himmel bewundern." Blair überlegte, ob es ratsam sei, die moralisch Entrüstete zu spielen oder mit sachlichen Argumenten an das logische Denken dieser Dummköpfe zu appellieren. Schotten waren wegen ihres hitzigen Temperamentes berüchtigt. Vielleicht sollte sie einen Wutanfall bekommen! „Aber, aber, Miss Duncan! Ich weiß, Sie fürchten um Ihren und meinen guten Ruf. Trotzdem wäre es besser, Sie sagten den Gentlemen die Wahrheit", riet ihr der Earl of Lindsay. Gelassen lehnte er am Türpfosten, sehr entspannt und ruhig. „Ich fürchte, die Zeit für kleine Geheimnisse ist vorbei!"
„Lord Lindsay!" Blair geriet in Panik. Die Hände wurden ihr feucht, der Atem ging hastiger, und sie bemühte sich, den Sinn der Worte zu begreifen. Cameron hatte doch hoffentlich nicht vor zu gestehen, daß er der Dieb war! So zuvorkommend das auch sein mochte, es wäre unklug, die törichte Geste eines
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