Historical Weihnachtsband 1992
daß Cameron sie verlassen hatte, ohne sie noch einmal aufzusuchen. Nur sie trug die Schuld, daß er für immer aus ihrem Leben verschwunden war. Seit Tagen hatte sie davon geträumt, daß er der erste Mensch sein sollte, der bei der Silvesterfeier über die Schwelle von Duncan House trat und ihr für das kommende Jahr Glück brachte. Offensichtlich hatte er es aufgegeben, länger um Blair zu werben, und war nach London gefahren. Sie konnte nicht die Flucht ergreifen. Sie mußte den Bewohnern von Glenmuir ein lachendes Gesicht zeigen und mit ihnen das Fest verbringen. Dabei hätte sie am liebsten der Liebe nachgetrauert, die sie aus eigenem Versagen verloren hatte.
Sie straffte die Schultern und atmete in tiefen Zügen in der kalten Dezemberluft durch. Die weisen Lehren des Vaters fielen ihr ein, immer guten Mutes zu sein und Widerständen zu trotzen, mochte das Leben auch noch so freudlos sein. Gut, sie mußte sich nicht unter die Dörfler mischen und auf das Läuten der Glocken und den bunten Umzug warten. Aber sie konnte sich nicht dem Brauch entziehen, Duncan House den fröhlichen Menschen zu öffnen, auch wenn ihre Begeisterung für den Jahresausklang zum ersten Male nicht echt sein würde.
Es war schnell finster geworden. Blair näherte sich der Küchentür und wäre beinahe gestolpert. Vor der Schwelle lagen
einige Pakete. Was hatte das zu bedeuten? Sie wollte das erste aufheben, als Mrs.
Brown herauskam.
„Das gefällt mir schon besser, Miss Duncan. Ich habe mich schon gefragt, ob der heimliche Wohltäter außer der Gans, so gut sie auch geschmeckt hat, nichts für Sie hätte! Es ist nur recht und billig, daß er Ihnen zuletzt die Geschenke bringt." Die Haushälterin lachte leise. „So sind die Männer nun einmal. Kommen Sie, öffnen Sie die Pakete!"
„Nein, sie sind ganz bestimmt nicht für mich", widersprach Blair.
Bevor sie jedoch etwas tun konnte, hatte Mrs. Brown alle Päckchen ins Haus geschleppt, holte eine Schere und entfernte die Verpackungen. Drei überaus elegante Seidenkleider kamen zum Vorschein. Eines kannte Blair bereits. Es hatte in jener schicksalhaften Nacht auf dem Bett in Camerons Schlafzimmer gelegen.
Sofort schnitt Mrs. Brown die Schnur des zweiten Paketes auf. Es enthielt zarte Spitzenunterwäsche. „Nun wird der gute Mann aber sehr persönlich, meinen Sie nicht auch, Madam?" fragte die Haushälterin und zwinkerte ihr vergnügt zu. „Naja, immerhin sind Sie so gut wie verlobt, und er ist schließlich Mary Connerys Sohn. Da wird keiner etwas daran finden!" Vor allem nicht nach dem, was Ian Ferguson mir heute erzählt hat, fügte sie in Gedanken hinzu.
Mrs. Brown wußte alles? Diese Erkenntnis verblüffte Blair beinahe so sehr wie der Anblick der eleganten Garderobe. Das also war die Erklärung für die lange Rechnung von Miss Eloise! Blair hatte die Sache gründlich mißverstanden. Wie hatte sie nur eine solche Närrin sein können, daß sogar die Dienstboten begriffen, was sie sich nicht eingestehen wollte? Cameron liebte sie! Er liebte sie so sehr, daß er diese Roben schon vor Monaten bestellt hatte in der Hoffnung, sie würde die Geschenke annehmen. Statt dessen hatte sie das grüne Kleid empört zurückgewiesen und ihn dazu.
„Ich glaube nicht, daß ich ins Dorf gehe, Mrs. Brown", sagte sie leise und fühlte sich unglücklich. „Ich werde mich umziehen und hier die letzten Vorbereitungen für den Empfang der Leute treffen."
„So? Ganz wie Sie wünschen", stimmte Mrs. Brown sofort zu. Sie konnte sich vorstellen, daß das junge Paar vorher noch ein wenig allein sein wollte.
Das blaßgrüne Kleid saß tadellos. Das Oberteil betonte den Busen und ließ die Taille so schmal erscheinen, daß Blair den Eindruck hatte, die Gestalt im Spiegel sei zu schlank, zu schön, um wirklich sie selbst zu sein. Einen Augenblick lang hätte sie sich am liebsten die Seide vom Leib gerissen, so sehr schämte sie sich, Cameron mißverstanden zu haben. Doch dann tröstete sie sich mit dem Gedanken, wie aufmerksam und liebevoll er Farbton und Stoff ausgewählt hatte. Doch dann sah sie es als Strafe an, das Kleid an diesem Abend zu tragen, zur Erinnerung daran, was ihr törichter Hochmut sie gekostet hatte.
★
In der Ferne begannen die Kirchenglocken zu läuten. Eilig ging Blair die Treppe hinunter zur ersten Etage und brachte es fertig, in allen Fenstern die Lichter zu entzünden, obgleich kaum Zeit dafür war. Dies war das Zeichen, daß in Duncan House ganz Glenmuir willkommen war,
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