Historical Weihnachtsband 1992
sollte.
Sara hob vorsichtig die Hände. Dabei ging ihr Blick langsam von Becky über Robert
— nein Ralph — zu dem nervös mit der
Waffe in der Hand dastehenden jungen Mann. Er trug die blaue Uniform der Unionstruppen, und sein linker Arm hing in einer Schlinge, die aussah wie ein Schultertuch für Damen, mit dem bunten Paisleymuster und den Fransen. „Wer sind Sie?" fragte sie schließlich.
Ralph wollte die Situation gerade erklären, da nahm der junge Mann schon Haltung an und schlug die Hacken zusammen. „Corporal Cecil Stanley, Madam. Gekommen, um nach dem Lieutenant zu sehen."
„Nehmen Sie endlich das verdammte Gewehr weg, Junge, bevor jemand verletzt wird", befahl Ralph barsch.
Der Corporal warf ihm einen entschuldigenden Blick zu und senkte den Lauf ein wenig. Dann zuckte er mit den Achseln und lehnte seine Springfield gegen die Wand.
Becky riß sich los und eilte zu ihrer Mutter. Robert. . . nein Ralph . . . machte dabei ein Gesicht, als würde er am liebsten im Boden versinken.
„Ich erkläre die Sache am besten", sagte er leise.
Sara preßte die Lippen zusammen. „Ja, das solltest du." Dabei wußte sie doch schon Bescheid. O Gott, wie sehr wünschte sie, es wäre alles nicht wahr.
„Warten Sie draußen, Corporal."
„Aber Sir, glauben Sie nicht. .."
„Verdammt, Cecil. Raus jetzt, verstanden?"
Der Junge bewegte sich rückwärts zur Tür, wobei er Sara und ihre Tochter mißtrauisch im Auge behielt. Er schien damit zu rechnen, daß eine der beiden bei der ersten besten Gelegenheit wieder nach dem Holzknüppel greifen würde.
Sara atmete tief ein. Es war vorbei. Auf den schönen Traum folgte jetzt der Alptraum. „Willst du mir selbst sagen, was geschehen ist, oder soll ich es für dich tun?" fragte sie müde. Becky sah mit erstauntem, aber nicht wirklich ängstlichem Blick von einem Erwachsenen zum anderen.
„Du wußtest es die ganze Zeit?" wunderte Ralph sich. „Warum hast du dann mitgespielt? Du hättest es mir verdammt
noch mal sagen müssen."
„Es war kein Spiel. Ich habe ehrlich geglaubt, du wärst. . ." Sie zuckte mit den Schultern und hob die Hand, um ihr Gesicht zu verdecken, damit er nicht sah, was sie empfand. Nein, sie hatte ihm nichts vorgemacht. Überhaupt nichts. Und jetzt schämte sie sich. Ihr war, als könnte sie sich ihren Irrtum niemals verzeihen. Sie hätte doch etwas merken müssen!
„Sara, bitte weine nicht."
„Ich weine gar nicht, verdammt. Becky, geh in dein Zimmer."
Das Kind klammerte sich noch fester an seine Mutter und sah wieder fragend von einem zum anderen.
Ralph kniete sich zu ihr auf den Boden und legte ihr sanft seine Hand auf die Schulter. „Bitte, mein Schatz", sagte er sanft. „Deine Mama und ich müssen etwas ganz Privates miteinander besprechen. Es ist nichts, weshalb sich kleine Mädchen Sorgen machen müssen, das verspreche ich dir."
Als Becky die Tür hinter sich geschlossen hatte und Ralph wieder aufgestanden war, konnte Sara ihre Gefühle nicht länger zurückhalten. „Warum bist du nur hergekommen?" fragte sie verzweifelt. „Hast du geglaubt, daß alles, was Robert gehörte, jetzt dein Eigentum ist?"
„Sara, versteh doch . . ." begann Ralph, doch sie winkte ab. In ihren Augen stand der Schmerz über die Enttäuschung.
„Nein, du bist es, der verstehen muß. Wenn du die Farm haben willst, gut. Sie gehört dir. Ich werde nicht darum kämpfen. Aber Becky bekommst du nicht. Sie ist mein Kind. Und eines sage ich dir. Ich will dich nie, nie wiedersehen. Geh dahin zurück, wo du hergekommen bist, und laß uns in Ruhe."
„Bitte, hör mir doch zu, Sara . . ."
Sie sprach einfach weiter. „Wenn diese ganze Tragödie hier erst einmal vorbei ist, kannst du kommen und dein Erbteil beanspruchen." Sie zitterte mittlerweile am ganzen Körper und stemmte die abgearbeiteten Hände in die Taille. „Falls noch etwas davon übrig sein wird", fügte sie bitter hinzu.
Er zog die dunklen Augenbrauen hoch, als ob er kein Wort verstand von dem, was sie sagte. Er denkt wohl, ich durchschaue sein Spiel nicht, überlegte Sara. Das Gedächtnis verlieren! Ha! Und dann noch so zu tun, als wüßte er nichts von Robert. Besaß er denn überhaupt kein Ehrgefühl?
Nun ja, um fair zu bleiben. Robert hatte ihr gegenüber nie einen Zwillingsbruder erwähnt. Es könnte immerhin sein . . . Ja, selbst wenn sie von dem Gedächtnisverlust absah, war es durchaus möglich, daß keiner der beiden Brüder voneinander gewußt hatte.
Oh, was sollte sie jetzt nur
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