Historical Weihnachtsband 1992
denken? Wenn Ralph nun der Familie seines Bruders nur einen Höflichkeitsbesuch hatte abstatten wollen, und dann waren die Dinge außer Kontrolle geraten?
„Sara, bitte hör mir doch zu", bat er wieder.
Sie zitterte immer noch und zog die Schultern hoch. Ihre Augen standen voller Tränen. Sie erkannte Ralph in seinem blauen Hemd nur noch verschwommen.
Roberts Lieblingshemd, dachte sie. Und seine Hosen trug er auch. Sie atmete bebend ein und schloß die Augen. „In Ordnung, ich höre. Um Beckys willen. Du bist ja wahrscheinlich ihr Blutsverwandter. Aber ich werde dich trotzdem bis an mein Lebensende für das hassen, was du mir angetan hast."
Seine braunen Augen — Robertsund Beckys Augen, dachte sie bitter — waren auf sie gerichtet. Auch wenn seine Miene gequält wirkte, verfehlte sein Blick seinen verführerischen Zauber nicht. Selbst der Klang seiner Stimme wirkte entwaffnend auf sie. Von Roberts Stimme hatte sie sich nie so angerührt gefühlt.
„Sara, ich schwöre, daß ich genauso verwirrt bin, über das, was geschehen ist, wie du. Das Kind schien mich zu kennen, und du . . ." Er unterbrach sich, da ihr die Röte in die bleichen Wangen stieg. „Und was soll das mit der Erbschaft? Sind wir etwa verwandt, dein Robert und ich?"
Sara betrachte skeptisch sein Gesicht und verglich es mit Roberts. Jetzt, wo sie alles wußte, sah sie die kleinen Unterschiede. Ralphs Kinn war etwas eckiger, und seine dunklen
samtigen Augen wirkten noch tiefgründiger. „Du hattest wirklich keine Ahnung?"
„Gibt es nicht von jedem Menschen einen Doppelgänger? Nun, meine Verwandten haben mir erzählt, daß mein Vater irgendwo aus dem östlichen North Carolina stammt und Jones heißt. Doch was glaubst du, wie viele Jones es auf der Welt gibt?
Und wie groß war die Chance, daß ich bei meinem Auftrag hier ausgerechnet in dein Haus stolpere? Mein Gott, Sara. Wie hätte ich das alles wissen sollen? Ich kenne meinen eigenen Namen doch erst seit wenigen Jahren."
„Ralph Mallory Jones, so heißt du also", vervollständigte Sara.
„Ich wuchs auf als Ralph Mallory. Meine Mutter nahm wieder ihren Mädchennamen an, als wir zurück nach Boston zogen. Erst nach ihrem Tod habe ich dann die ganze Wahrheit über meinen Vater erfahren."
„Und über deinen Bruder", ergänzte Sara bitter. Sie bemerkte, wie die Farbe aus seinem Gesicht wich. „Rob . . . Ralph", flüsterte sie. „Du setzt dich besser hin."
Betrüger oder nicht, sie hatte ihm immerhin eigenhändig die Kopfverletzung beigebracht. Sara deutete auf die gepolsterte Sitzbank. „Hier, dorthin." Dann ließ sie sich ebenfalls in ihrem Ohrensessel am Feuer nieder.
Hinter ihnen öffnete sich die Tür einen Spalt, und Becky spähte mit furchtsamem Blick ins Zimmer, ihre Wangen waren tränenüberströmt. Sara breitete die Arme'
aus. Das Kind rannte auf sie zu und kletterte auf ihren Schoß. Sie hielt die Kleine fest an sich gepreßt. Es war wirklich verblüffend. Becky wirkte wie eine Miniaturausgabe der beiden Männer, die sie am meisten in ihrem Leben geliebt hatte — Robert und seinen Zwillingsbruder. Und den letzteren liebte sie immer noch, ganz gleich, was er ihr angetan hatte.
„Ralph, hat deine Mutter dir nie etwas von einem Bruder erzählt?" An seinem Gesichtsausdruck konnte sie deutlich erkennen, wie sehr ihn das Gespräch anstrengte. Vielleicht hätte sie das Thema vorsichtiger angehen sollen, doch dazu fühlte
sie sich nicht in der Lage.
Außerdem wartete dort draußen auf der Veranda dieser ungestüme Blaurock. Sie konnte hören, wie er ungeduldig auf und ab ging. Und bei jeder Kehrtwendung warf er einen Blick durchs Fenster, als fürchtete er, sie würde jeden Moment aufspringen und seinem Lieutenant etwas antun.
„Ralph, ich war heute nachmittag bei Abigail Gregory. Sie ist die Tante deines Vaters, deine Großtante also. Miss Abigail ist fast neunzig, doch ihr Verstand arbeitet immer noch hervorragend, jedenfalls was die Vergangenheit betrifft.
„Und sie hat dir gesagt, ich hätte einen Bruder?"
„Ja, einen Zwillingsbruder. Robert Henry. Er wurde damals als erster in die Familienbibel eingetragen, weil er offenbar der ältere war. Ihr seid beide am vierten November 1834 geboren, hier in diesem Haus. Wahrscheinlich sogar im selben Bett, in dem . . ." Sie schluchzte heftig.
Ralph schien um Jahre zu altern. Sein Gesicht wurde grau. Vorher war es nur blaß gewesen.
Sara beugte sich vor, um ihn besser auffangen zu können, falls er ohnmächtig wurde.
Weitere Kostenlose Bücher