Historical Weihnachtsband 1992
hätte ihr Onkel Ralph schon ein Dutzend Briefe losgeschickt, die alle irgendwo unterwegs auf einer Poststation lagen und nicht weiterbefördert wurden.
Sie selbst glaubte nicht einen Augenblick an diese Geschichte. Gutaussehende Männer aus dem Norden wie Ralph Jones oder Lieutenant Mallory verschwendeten doch keinen weiteren Gedanken an arme Witwen im Süden, die nicht einmal mehr ein vernünftiges Kleid zum Anziehen besaßen und deren Hände von der groben Arbeit hart wie Hickoryholz waren.
Viele schöne Worte und leere Versprechungen. Sie kannte so etwas zur Genüge, wie alle Frauen. Auch Robert hatte viel versprochen, als er um sie warb, und dann wenig gehalten. Um eine Frau fürs Bett und den Haushalt zu bekommen, waren ein paar schmeichelnde Worte gerade gut genug.
Dennoch empfand Sara keine Bitterkeit. Sie hatte schließlich Becky. Und bald auch noch das andere Kind, das sich schon kräftig in ihr bewegte und sie bis weit in die Nacht am Schlafen hinderte, so daß sie sich morgens immer völlig übermüdet aus dem Bett quälen mußte.
Am Morgen des elften September schickte Sara ihre Tochter los, um Annie zu holen.
Das Ereignis hatte sich schon einige Zeit vorher angekündigt. Sie verspürte seit drei Tagen dumpfe Rückenschmerzen, und morgens, als sie aus dem Haus gegangen war, um die Kuh zu füttern, hatten die ersten Wehen sie durchzuckt.
Sie schärfte ihr ein, unterwegs auf keinen Fall zu trödeln. „Sag Annie nur, die Zeit wäre da. Du kannst dann bei Margaret bleiben, bis ich dich holen lassen, hörst du?"
Margaret war ebenfalls schwanger. Ihr junger Ehemann war fort, hatte ihr aber versprochen zurückzukommen, sobald der Krieg vorbei war.
Es war Sara schwergefallen, ihre Meinung über diesen Blödsinn zurückzuhalten. Nun ja, wenigstens hatte Annie ihr Haus jetzt wieder für sich. Das Regiment war weitergezogen, in Richtung Currituck Courthouse oder zurück nach South Mills, wie andere meinten.
In den letzten Wochen ihrer Schwangerschaft hatte Sara immer wieder mit sich gerungen, wie sie das Kind nennen sollte. Sie dachte zunächst an Adolphus, nach Ralphs Vater. Oder an Abner, so wie ihr Vater geheißen hatte. Natürlich könnte es auch ein Mädchen werden. Für den Fall hatte sie sich für Nancy entschieden, den Namen ihrer Mutter.
Oder sollte sie ihn Robert nennen? Robert Henry . . . Nein, vielleicht Walter.
Schließlich nahm sie beide Namen, Robert Henry und Walter Mallory.
Ralph warf die Krücke gegen die Wand und nahm die Tür am anderen Ende des Zimmers ins Visier. Er könnte es schaffen. Zum Teufel, natürlich schaffte er es. Oder hatte er sich völlig umsonst gegen eine halbe Hundertschaft von Armeeärzten zur Wehr gesetzt, die ganz versessen darauf schienen, ihm das Bein abzuhacken? Jetzt wollte er auch damit gehen können, statt es wie ein gefühlloses Stück Holz hinter sich herzuschleifen.
Ein Schritt, dann noch einen. Er begann zu taumeln, fing sich wieder und biß die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerz aufzuschreien. Noch ein paar Schritte, und er hatte den halben Weg durchs Zimmer geschafft. Zwölf Schritte ohne Krücke.
Seine persönliche Bestleistung bisher.
Er arbeitete sich verbissen weiter bis zu dem ledernen Ohrensessel und ließ sich schließlich erschöpft hineinfallen. „Mehr als die Hälfte, Sara", murmelte er.
„Vielleicht, in den nächsten Tagen . . ."
Für heute jedoch war es genug. Er blieb ausgestreckt im Sessel sitzen und rief nach dem Butler. Der Mann tat schon, seit Ralph denken konnte, seinen Dienst im Haus der Mallorys. „Carruthers! Wo zum Teufel stecken, Sie? Bringen Sie mir meinen Brandy. Ich habe ihn redlich verdient."
Sara rollten die Tränen über das Gesicht. Es waren noch vier Tage bis Weihnachten, genau ein Jahr, nachdem Ralph plötzlich aufgetaucht war. Die Erinnerung daran machte sie wütend und verletzt. Gleichzeitig klopfte ihr vor Aufregung und stiller Hoffnung das Herz bis zum Hals.
„Ist es von Onkel Ralph?" fragte ihre Tochter und zappelte unruhig hin und her.
Sara nickte. „Ich denke schon, mein Schatz. Wer sollte uns sonst ein Paket zu Weihnachten schicken?"
Becky war klug genug, jetzt auf keinen Fall Santa Claus zu erwähnen. Sie verstand jetzt schon viel mehr von diesen Dingen.
Sara holte zwei kleine Schachteln aus dem Paket. Die eine enthielt sauber gearbeitete Kinderhandschuhe, die Becky nur wenig zu groß waren. In der anderen Schachtel lagen ebenso gute Handschuhe für Sara. Dann fanden sie zwei Stoffbahnen
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